Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
Anspannung. Die sollen mich bloß damit in Ruhe lassen. Hingebungsvoll feudle ich das Wort »Danke« auf die Spielfläche. Statt Premierengeschenken. Verschenkt habe ich mich schon genug.
Kurz nachdem ich endlich in mein erstes Premierenkostüm gestiegen bin – blaue Badehose, Jeans, rosa Hemd, braunes Samtsakko, graue Turnschuhe –, kommen wieder Polizisten, um mich abzuholen. Sie behaupten, die Schauspieler wollten nun endlich in Ruhe ihre Premiere spielen. Das ist ja lustig. Was mache ich denn die ganze Zeit? Schaffe ich nicht seit Wochen mit unglaublichem Kraftaufwand erst die Bedingungen, dass die ihre Premiere spielen können? Schauspieler sind im Grunde eben auch alle, entschuldige bitte den Ausdruck, rückgratlose Arschlöcher!
Es ist Punkt neun Uhr. Ich habe alles geschafft. Draußen der erste Lichtblick. Ich entdecke Kourosh, meinen Freund. Komm, hol mich hier raus. Wir gehen in den Monbijoupark gegenüber. Hans-Peter und Irene kommen dazu. Sie fragen, ob ich etwas brauche. Wasser, aber bitte kalt und aus einer Glasflasche. Während ich auf das Getränk warte, erreicht die Helferclownerie um mich herum ihren Höhepunkt. Vor mir stehen plötzlich zwei Gestalten, wie sie hilfsbedürftiger nicht aussehen könnten. Sie behaupten allen Ernstes, sie seien von der Kriseninterventionszentrale Berlin, einer Art Erste-Hilfe-Station für Meisenträger.
»Ihr habt ja selber die Krise. Schaut euch doch mal an. Und Sie können nicht mal richtig reden mit Ihrem Sprachfehler.« Der eine hat eine Hasenscharte und spricht dadurch stark durch die Nase. Vollkommen unadäquat. »Ich brauche Ihre Hilfe nicht. Danke für Ihre Mühe. Nein, wirklich.« Abgang. Von wem waren die denn?
Hinterher stellt sich heraus, dass mir eine befreundete Schauspielerin die beiden Freaks auf den Hals geschickt hat. Carola hat selbst eine verrückte Mutter und meinte es nur gut mit mir. Schön, dass alle über mich sprechen, nur keiner mit mir. Ich höre immer wieder die Stimme von Irene, die gebetsmühlenartig behauptet, Berlin sei einfach zu heiß für mich. Auch eine schöne Erklärung. Hans-Peter weiß es am besten. Sein Sohn George ist ebenfalls manisch-depressiv. Er weiß, was gerade passiert und dass er mich nur sehr bedingt erreichen kann. Unaufdringliche Überwachung. Kourosh ist einfach nur da. Ohne Bewertung. Ohne Anliegen. Ohne Angst. Das beruhigt mich zumindest so weit, dass ich neben ihm im Gras einschlafe. Tiefschlafphase. Seit Tagen das erste Mal. Ich wache erst vom Applaus auf. Das Stück ist ein Erfolg. Hab ich doch gesagt. Triumphgefühl.
Die Gesichter, in die ich nach der Aufführung blicke, sind von jeglicher Angst bereinigt, offen und wohlwollend. Das Geschenk ist angekommen. Auch bei mir.
Ich wechsle mein Kostüm, ziehe den schwarzen Armani-Anzug an und erlebe die kürzeste Premierenfeier meines Lebens. Es scheint, als wollten alle nur rasch weg. Weg von hier oder weg von mir? Egal.
Auch für mich ist Schluss. Ich will nur noch weiterschlafen und lasse mich evakuieren. Aus der Gefahrenzone bringen.
So.
Bis hier.
Mein Arm tut weh.
wir fahren durch das nächtliche Berlin hinaus nach Schmargendorf. Westberlin. Irene bewohnt dort ein dreistöckiges Haus. Sie lebt mit ihren fünf abartig schönen, aber völlig gestörten Hunden im Erdgeschoss. Unfassbar ist, wenn die fünf Hunde abends nebeneinander auf dem Sofa sitzen und fernsehen und man nur mit einer Peitsche bewaffnet an ihnen vorbei auf die Toilette kommt. Die oberen Geschosse sind Gästewohnungen, dienen in Wahrheit aber der Lagerung ihrer Schätze. Irene hat die Angewohnheit, von einer Sache gleich ein Dutzend anzuschaffen. Gefällt ihr ein Pullover, so kauft sie ihn in allen verfügbaren Farben. Das ganze Haus erstickt unter einer Lawine von Dekorationsartikeln. Kerzenständer, Windlichter, Schälchen, Vasen, Deckchen, Gläser und so weiter.
Alle sind müde. Trotzdem sitzen wir noch eine Weile auf der Terrasse. Die Hunde haben den Garten in eine abstrakte Kraterlandschaft verwandelt. Ich löffele ruhig und zufrieden einen halben Liter Karamelleis, das ich an der Tankstelle gekauft habe. Und ich trinke kaltes klares Wasser. Alle scheinen zu wissen, wie nun alles wieder gut werden soll in meinem Leben. Wie es weitergehen soll. Sie sind schon dabei, das Vergangene einzuordnen. Mir ist das leider nicht möglich. Auch wenn ich nun etwas ruhiger bin. Der Plan ist, dass wir den nächsten Tag noch in Berlin verbringen und Kourosh sich abends die zweite Vorstellung
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