Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
darauf. Die Gänselampe auf dem ausziehbaren Schreibtisch. Die kleine Schrankwand mit den vergilbten Taschenbüchern. Konsalik. Simmel. Kishon und das alte Märchenbuch aus der DDR . Auf dem Schrank ein afrikanisches Beil aus Elfenbein. In der untersten Schublade von mir gesammeltes Strandgut, ausgebreitet auf einer alten Stoffwindel: ein Rochenei, Stab-und Jakobsmuschelschalen und ein verwitterter Holzklotz mit einem Nagel, der aussieht wie ein Transistorradio. Der Flokatibettvorleger, der mal weiß war, inzwischen aber schon etwas vergilbt vom Urin des Hundes. Der Hunde. Erst Bandit, dann Murphy und schließlich der völlig verrückte Graf Joster. Ein wunderschöner Rauhaardackel, der sich einbildete, in fahrende Autoreifen beißen zu können. Sein Verhängnis. Wie von der Tarantel gestochen, ist er den Autos hinterhergerast. Onkel Christian hat ihn vor der Haustür überfahren. Aus Versehen, sagt er. Tragisch. Das war Mimas letzter Hund. Mein letzter Hund. Der Geruch in der Küche, der von der Speisekammer ausging. Puddingpulver, Zwieback, Baisers, Zwiebeln, Rinderbrühe oder ein paar Reste vom Vortag. Das Wohnzimmer mit der Süßigkeitenschublade in der Mitte des Sideboards. Darauf der Zigarrenständer aus Holz. Das alte Radio mit den Kippschaltern. Das Ölbild über dem Lesesessel. Die bronzene Sanduhr. Die grauen Breitcord-Sofas im Wohnzimmer und der Blick nach draußen durch die riesigen Fenster. Die Garage voller Räder. Jahrelang vermutete ich in ihr ein Känguru. Schuld daran waren Hans-Peters geheimnisvolle Geschichten. Das Nachbarhaus von Onkel Christian und Tante Levke, zu denen ich vor dem Abendessen oft gegangen bin. In ihrer Küche fanden sich stets dieselben Gäste ein, und es wurde dort viel gelacht. Zurück ins andere Haus. Roastbeef mit Bratkartoffeln und hinterher ein riesiges Stück Königsrolle! Ich weiß gar nicht, ob es Königsrollen noch gibt. Das ist eine Eiscremerolle aus Vanille-, Erbeer-und Schokoladeneis mit Sahnehäubchen und Schokostreuseln! Noch einmal Sahneprinz sein. Den Abend mit Mima vor dem Fernseher ausklingen lassen. Das große Badezimmer mit der Rotlichtanlage an der Decke. Ein großer Kasten, der verschiedene Lichtquellen beherbergt. Mit einem grauen Kunststoffstab konnte man die Farbe des Lichts und die Intensität verstellen. Kaltes Neonlicht, warmes Glühbirnenlicht oder eben Rotlicht bei Erkältungen. Gesteuert über eine Zeitschaltuhr an der Wand, die wie alle Uhren im Haus laut tickte und mit einem ohrenbetäubenden Klack das Licht erlöschen ließ. Am Morgen weckt mich Mima, indem sie einfach nur die Tür zu meinem Zimmer öffnet und dann wieder die Treppe hinuntersteigt. Ich rieche Tee und geröstetes Kastenweißbrot. Toast steht in einem Messingständer auf dem Tisch. Ein gekochtes Ei mit einem Huhn aus buntem Filz auf dem Kopf. Eine weiße Stoffserviette mit silbernem Ring.
Während ich mit großem Appetit esse, erzählt mir meine Großmutter Geschichten von sich und unserer Familie. Von ihrer Kindheit in Rostock. Von ihren Geschwistern. Wie sie als erste Frau mit achtzehn Jahren den Führerschein gemacht hat. Von ihrer Buchhändlerausbildung in Leipzig. Den Jahren im Krieg. Wie sie meinen Großvater auf der Krim in Russland kennengelernt hat. Von den ersten Jahren nach dem Krieg auf der Halbinsel Eiderstedt, auf der St. Peter-Ording liegt. Unendlich viele Namen und Daten, die ich mit der Zeit gut einordnen kann, weil Mima die Personen der Vergangenheit mit denen der Gegenwart vergleicht. Mit ihren Kindern, Enkelkindern und Verwandten. Das ist sehr anschaulich und auch sehr lustig. Besonders schön wird es, wenn sie etwas oder jemanden ablehnt. Das waren aber meistens Leute außerhalb der Familie. Klar. Vehement. Energisch. Und sehr sprachgewandt. Immer auf den Punkt. Dazu die bedingungslose Liebe zu ihrer Familie, die durch nichts und niemanden zu erschüttern war. Ich konnte ihr stundenlang zuhören – und durfte Wochen bei ihr verbringen.
All das gibt es so nicht mehr. So kennst Du es nicht. Deine Erinnerungen sind andere.
Frauke, Hans-Peter und Christian haben das Haus umbauen lassen und vermieten es an Feriengäste. Das müsse so sein. Anders sei das Haus nicht zu halten, meinen sie. Ich kann es verstehen, aber es macht mich traurig. Ich fühle mich aus meinem Paradies vertrieben. Aus dem Nest geschubst. Bei der gemeinsamen Haushaltsauflösung, Wochen nach Mimas Tod, möchte ich all die vertrauten Gegenstände festhalten. Festkleben. Ich möchte das Haus
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