Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
stehlen. Zum Abschied gibt sie mir einen Brief.
Ich bleibe allein auf der Bank sitzen und beginne zu lesen. Ich muss mich konzentrieren, obwohl das in den letzten Tagen schon wieder besser geht. Sie freue sich über unser Wiedersehen, schreibt sie, hoffe aber, dass ich mir Zeit nehme für mich. Zeit, um mich zu erholen. Sie sei sehr erschrocken gewesen über meinen Zustand. Ich fange an zu weinen, weil ich langsam begreife, was ich mit meinem Verhalten angerichtet habe. Leichtfertig, unkontrolliert, ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer. Die Tränen laufen mir nur so die Wangen hinunter, es schüttelt mich richtig. Passanten gucken betreten an mir vorbei. Was bin ich für ein Idiot. Was habe ich mir denn vorgestellt? Wie habe ich es mir eigentlich vorgestellt? Das haben mich schon so viele Menschen gefragt. Und jetzt auch noch Sophie. Ich weiß es doch selbst nicht. Ich wollte sie bloß um Verzeihung bitten. Wollte, dass wir uns wieder nah sind. Dass wir uns wiederfinden. Aber eben noch mehr. Ich will immer noch mehr. Weil ich fest daran glaube, dass wir zusammengehören. Dass wir füreinander bestimmt sind. Dass wir für den anderen genau der eine Mensch sind, den es nur einmal gibt. Aber vielleicht ist sie das nur für mich? Weil sie der einzige Mensch ist, der mich vollkommen versteht. Weil sie mich schon früher gekannt hat, lange vor dem Theater. Ich möchte zu meinen Wurzeln zurückkehren. Nur: Was heißt das eigentlich? Und was, wenn Sophie gar nicht mit mir dorthin zurückwill? Ich möchte niemanden verletzen. Nicht mehr.
Ich fürchte, es wird nicht funktionieren.
Nein, ganz sicher nicht.
weißt Du eigentlich, warum mir Sophie das Heft von Tim und Struppi in Amerika mitgebracht hat? Ich habe ihr von meinem Notfallplan erzählt. Den habe ich entwickelt, weil die ersten Versuche, mir helfen zu lassen, nicht klappten. Ich wollte erst nach Kanada, wo mein Halbbruder lebt, den ich kaum kenne, und dann weiter nach Alaska. Auch wenn es dämlich ist: Ich sehne mich so sehr nach Größe und Freiheit. Wenn es schon mit der inneren Größe und Freiheit nicht klappt, soll wenigstens das äußere Drumherum angemessen sein.
Dieses Gefühl habe ich nicht erst, seit mir die aktuelle Meise zugeflogen ist. Das wird mir hier langsam klar. Für mich ist es deshalb auch nicht einfach herauszufinden, wo die Krankheit anfängt und meine Persönlichkeit aufhört. Auch den Ärzten fällt es schwer.
Jedenfalls ist mir die Meise nicht erst jetzt zugeflogen. Das ist sie schon ein halbes Jahr vor dem Abitur, und dann hat sie sich gleich den ganzen Sommer über bemerkbar gemacht. Oder noch nicht bemerkbar genug?
Ich bin neunzehn Jahre alt und stolzer Besitzer eines Autos. Ein knallroter Golf 1 mit kaffeebraunen Stoffbezügen. Ich fühle mich unglaublich frei, bin nur noch unterwegs und höchstens zum Schlafen zu Hause. Mein Kumpel Simon hat schon eine eigene Bude. Er macht Musik und hat gerade eine neue Band gegründet. Obwohl ich kein Instrument spiele, bin ich immer dabei, wenn sie zusammen üben. Ich schreibe die Texte, aber eigentlich möchte ich lieber singen. Doch ich traue mich nicht richtig.
An meiner Schule gibt es keine streng voneinander abgetrennten Jugendgruppen. Es gibt keine Punks, keine Skins, keine Mods. Wir sind eine homogene Mischung aus Neo-Hippies und Poppern. Alle wachsen ganz selbstverständlich in Wohlstand auf und sind mehr oder weniger gut erzogen. Unterschieden wird höchstens nach dem Alter. Alle trinken. Gesittet während der Teestube in der Kirchengemeinde, hemmungslos im Partykeller, wenn die Eltern weg sind. Manche saufen, denn wer viel verträgt, wird dafür auch bewundert. Einige kiffen noch dazu. So wie ich. Das Rauchen von Marihuana, den getrockneten Blütenköpfen der Hanfpflanze, ist für uns bald das Maß aller Dinge und wird in meinem Freundeskreis so oft praktiziert, wie es der Geldbeutel gerade erlaubt. Anfangs kaufen alle nur kleine Mengen, die relativ lange halten, weil nur am Wochenende gekifft wird. Aufgrund der zunehmenden Häufigkeit grenzt sich der Bekanntenkreis automatisch ein. Aber auch wenn man gerade blank ist, möchte man auf das High-Sein nicht mehr verzichten. Irgendjemand hat immer noch einen kleinen Rest. Es ist schon schäbig, wenn man wie die Drogensüchtigen vom Hauptbahnhof nur für die Dröhnung mit Leuten abhängt, die man eigentlich nicht mag. Aber das ist uns gleichgültig, fast alle machen das so. Eine reine Zweckgemeinschaft. Hauptsache, die Augen sind rot,
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