Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
Zeit über haben wir nicht viel gesprochen. Mussten wir auch nicht. Manchmal haben wir uns angeguckt und schon gewusst, was der andere gerade denkt. Dabei kennen wir uns kaum. Aber wenn man dasselbe durchmacht, ist man irgendwie miteinander verbunden. Unsichtbar.
Zurück beim Bootshaus, haben wir das Kanu saubergemacht und extra ordentlich zusammengepackt. So als wollten wir unsere Spuren verwischen. Aber vielleicht war das ein Teil von Wolfgangs Meise. Dass er alles in einer ganz bestimmten Ordnung haben muss. Wie viele andere. Sonst werden sie ganz unruhig. Zwanghaft. Zwangsstörung sagen die Meisendoktoren dazu.
Mich hat mein Meisendoktor bei der Chefarztvisite seinen Kollegen übrigens mit folgenden Worten vorgestellt: »Das ist Herr Schlösser. Herr Schlösser sucht nach einer für ihn geeigneten Form.« Mit der Aussage hat er recht, aber die Art, wie er sich ausgedrückt hat, war komisch. Und überhaupt: dass jemand so etwas über einen sagt. Es klang für mich ein bisschen nach: »Das ist der Affe Sebastian, und er versucht schon seit Wochen, an die versteckten Erdnüsse zu kommen.« Nach Tierversuch eben. Oder Zoo. Menschenzoo. Dabei hat er nur das wiedergegeben, was ich den Ärzten immer wieder selbst gesagt habe. In gewisser Weise war ich sogar geradezu besessen von der adäquaten Form. Was die Farben angeht zum Beispiel. Für mich gab es Profifarben, davon habe ich Dir ja schon geschrieben. Ganz klar: rot, schwarz, weiß und silber. Du musst mal darauf achten. Fast alle großen Firmen und auch die politischen Parteien haben ihren Schriftzug in mindestens einer dieser Farben gestaltet. Coca-Cola, Marlboro, Microsoft, Kellogg’s, Sparkasse, Virgin, SPD , CDU , TUI , AEG , DB , 3M zum Beispiel. Deshalb musste mein Auto auch rot, mein Anzug schwarz und mein Füller eben silbern sein. Ein bekannter Bühnenbildner, Axel Manthey, hat angeblich einmal zu seinem Schüler gesagt: »Wenn du nicht weißt, wie du es machen sollst, dann mach es rot!« Der Mann hat völlig recht, finde ich. Rot stimmt fast immer. Nicht nur auf der Bühne.
Wie bin ich jetzt darauf gekommen? Ach ja. Über die Form. »Herr Schlösser sucht seine Form.« Bedeutet das, dass ich jetzt noch formlos bin? Oder aus der Form geraten? Egal. Entscheidend ist doch, ob einem die Form zugestanden und gewährt wird. Darf man zum Beispiel so direkt sein, wie ich es bis vor kurzem war? Darf ich meinen Impulsen, jeder Regung meines Geistes und meines Herzens nachgehen, oder ist das mit einer »normalen« Beziehung nicht vereinbar? Eher nicht. Man muss die Grenzen der anderen respektieren. Aber darum geht es gar nicht. Ich möchte vielmehr ein Geheimagent der Herzen sein und aus dem Nichts auftauchen, für einen intensiven Moment das Geschehen beherrschen, um genauso schnell und elegant wieder zu verschwinden. Ohne Spuren zu hinterlassen. Eine Art Amor. Der Liebesengel. Es gibt übrigens ein tolles Bild von dem Maler Rubens. Der, der immer die dicken Frauen gemalt hat. Amor reitet auf einem Delphin! Das ist doch der Wahnsinn. Ich, der Liebesbote, reite auf dem niemals schlafenden Delphin!
Zurück auf der Station, haben uns die anderen angeguckt wie Außerirdische. Sie waren ganz schön neidisch, weil sie selbst so etwas Tolles eine Ewigkeit nicht gemacht hatten. Ich habe trotzdem allen erzählt, wie schön es war. War mir egal. Jeder ist seines Glückes Schmied. Oder Bäcker oder Tischler. Auf jeden Fall muss man selbst etwas für sein Glück tun. Man muss sich vor allem trauen, etwas zu tun. Das ist für viele schwierig. Ich kann das verstehen. Ich hätte mich fast auch nicht hierher getraut, weil ich Angst hatte, die lassen mich nicht mehr raus. Weil ich Angst hatte, ich werde so ein Ritter von der traurigen Gestalt wie Don Quijote. Haben wir das Buch schon gemeinsam gelesen? Ich glaube nicht. Das ist die Geschichte eines jungen Mannes aus Spanien, der glaubt, selbst ein Ritter zu sein, nachdem er alle Bücher über Ritter gelesen hat, die er finden konnte. Seinen alten Gaul nennt er von nun an Schlachtross, und dann versucht er sogar gegen Windmühlen zu kämpfen. Wenn jemand einen vermeintlich aussichtslosen Kampf führt, sagt man deshalb, er kämpft gegen Windmühlen. So habe ich mich auch gefühlt. Ich habe Dinge und Menschen bekämpft, die wichtiger erscheinen, als sie sind. Amateure zum Beispiel.
Für heute habe ich genug gekämpft. Gegen den Widerstand von Wolfgang, gegen den Widerstand des Wassers und schließlich gegen meine Zweifel, ob ich
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