Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
Hans-Peter. Ich glaube, es gibt keinen in der Familie, der mich besser kennt als er. Wir können einfach sehr gut miteinander reden. Auch über die Meisen in unserer Familie. Sein Sohn George lässt sich seit Jahren nicht helfen. Ich glaube, Hans-Peter ist froh, dass ich mir helfen lassen will.
Wir saßen heute an einer völlig bescheuerten Ecke der Klinik – auf einer Bank am Eingang gegenüber der Pförtnerschranke. Dort haben wir geredet und geraucht. Stundenlang. Obwohl es hier sehr laut ist, wegen der raus-und reinfahrenden Autos. Ich habe viel weinen müssen, weil mir klargeworden ist, wie viel ich kaputtgemacht habe, in der letzten Zeit. Das ist so … so … so Scheiße! Entschuldigung. Ein Euro in die Schimpfwortkasse. Aber es stimmt doch. Eigentlich sollte ich jetzt mit Dir auf dem Fußballplatz sein. Oder beim Eisessen. Oder Dir was vorlesen. Oder mit Dir Lego bauen. Einfach so.
Ist aber nicht, geht aber nicht.
Ich muss erst wieder lernen, mich zu beherrschen. Jetzt verstehe ich, was die Leute meinen, wenn sie sagen, man hätte die Beherrschung verloren. Ich versuche gerade, sie wiederzuerlangen. Das ist schwer, weil ich in einem Moment ganz glücklich und im nächsten todtraurig bin. Das wechselt total schnell. Meine Krankheit eben.
Du wirst vielleicht denken, warum verschwindet sie nicht, wo er doch Medikamente bekommt? Es dauert leider eine ganze Weile, bis die Medikamente wirken und die richtige Dosis eingestellt ist. Bei einem Rennwagen dauert es schließlich auch sehr lange, bis er so läuft, wie man sich das wünscht. Wenn er läuft, dann muss man ihn trotzdem weiter gut beobachten, weil er so empfindlich ist. Ich bin sozusagen noch in der Erprobungsphase und werde von den Ärzten getestet. Auf meine Lebenstauglichkeit. Die wollen natürlich sichergehen, dass ich für mich und meine Umgebung keine Gefahr darstelle. Eine Gefahr darstellen möchte ich auch nicht. Nicht mehr. Ich glaube, ich habe mich schon viel zu sehr in Gefahr gebracht. Allein schon das wenige Schlafen war gefährlich. Die Ruhelosigkeit. Die Grenzerfahrungen.
Aber jetzt bin ich auf dem Weg.
Auf dem Weg zurück zu Dir.
Ich liebe Dich.
ich werde wirklich immer ruhiger. Die Meise scheint stillzuhalten. Meistens. Das ist fast ein wenig unheimlich, weil sich alles irgendwie leer anfühlt. Als ob der Motor nicht bloß abgestellt wurde, sondern gleich ganz ausgebaut. Und da, wo der Motor noch bis vor kurzem auf Hochtouren lief, zieht jetzt der kalte Wind durch. Ich habe Angst, dass kein neuer Motor mehr eingebaut wird. Zumindest einen kleinen hätte ich gern wieder, bitte. Muss ja kein Rennmotor sein. Aber einer, mit dem man auch mal auf der Autobahn fahren kann und der stark genug ist, Mitfahrer zu transportieren. Wie soll ich sonst arbeiten?
Die Ärzte sagen mir, dass ich Geduld haben muss. Wenn man so aus dem Gleichgewicht geraten ist wie ich, dann dauere das eben eine Weile. Geduld. Ich komme mir total ausgebremst vor. Als hätte ich mich eine Weile wie wild ganz schnell im Kreis herumgedreht und sei dann plötzlich angehalten worden. Man torkelt im ersten Moment noch ein bisschen, dann steht man wieder stabil auf seinen Füßen. Nur im Inneren dreht es sich noch eine Zeit weiter. Das Drehen macht viel mehr Spaß als das Anhalten. Das Innehalten. Aber genau deswegen bin ich hier. Um das Innehalten zu lernen.
Im Kopf fällt mir das wahnsinnig schwer. Nach außen hin habe ich mich schon angepasst. Ich sitze mehr und mehr, habe immer weniger Lust, mich zu bewegen, und damit verhalte ich mich genauso wie die Leute, die mir am Anfang so albern und traurig vorkamen. Die Profi-Wolkenkuckucksheimer.
Ich bin nicht richtig traurig und nicht richtig fröhlich. Ich bin gar nichts. Ich fühle nichts. Ich weiß, ich sollte, aber es will nicht klappen. Ich habe Angst, dass es so bleibt. Dass ich nie mehr etwas richtig fühlen kann. In solchen Momenten verstehe ich auch die Patienten, die sich gegen die Medikamente wehren. Gestern zum Beispiel, da standen sie zu sechst vor dem Zimmer von Herrn Schmitz. Er ist schon etwas älter, ziemlich groß und noch ziemlich stark. Er hat ganz sicher eine Profi-Meise. Er hat sich geweigert, seine Medikamente zu nehmen, und sich in seinem Zimmer verbarrikadiert. Immer, wenn ein Pfleger versuchte reinzukommen, hat er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür gestemmt. Es kamen immer mehr Schwestern und Ärzte dazu. Ja sogar einer aus der Verwaltung. Irgendwann haben sie es dann geschafft, die Tür zu
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