Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
Hunger vor dem Schlafen angelegt. Also, ich habe ihm die Dinger nicht geklaut. Ich habe gar nicht so einen Hunger. Außerdem hat er sie mir schon ganz oft angeboten. Wir sehen nämlich immer zusammen fern. Na ja. Da ist er dann mal richtig laut geworden. Für seine Verhältnisse. Wolfgang ist ja sonst eher sehr still. Alle haben blöd geguckt. Er habe jetzt genug von dem Scheiß. Und überhaupt: Essen klauen, das sei das Letzte. Der nervige Martin hat immerzu gekichert. Das hat Wolfgang noch mehr aufgeregt. Schließlich ist er rausgestürmt. Ich glaube, es hat ihn aufgeregt, dass keiner es zugegeben hat. Kommt Dir bekannt vor, ne? Feige Spinner. Aber harmlos. Harmlos und lieb. Nichts gegen die harten Jungs aus dem zweiten Stock.
Der Chef der psychiatrischen Abteilung hat übrigens gemeint, es sei sehr wohl möglich, unter Einfluss meiner Medikamente eine künstlerische Tätigkeit auszuüben.
Na. Wollen mal sehen.
Lithium. So heißt meine Medizin. Sie ist hochwirksam, aber auch gefährlich. Wenn man zu viel davon nimmt, kann man sterben. Das klingt sehr dramatisch, ist es aber nicht. Man geht regelmäßig zu seinem Meisendoktor, zu dem ich ja eh hinmuss, und der nimmt dann eine Blutprobe. Im Labor wird anschließend überprüft, wie hoch der Lithiumgehalt im Blut ist. Das ist wie beim Auto. Da muss ich doch auch regelmäßig den Ölstand kontrollieren, sonst geht der Wagen hops.
Das andere Medikament heißt Zyprexa und sorgt dafür, dass die Meise akut, also jetzt gerade, eingesperrt wird. Dafür, dass sie weggesperrt bleibt, und dafür, dass sich meine Stimmung stabilisiert, ist das Lithium zuständig, und es wird es wohl immer bleiben. Denn die Ursache für die Meise kann auch das Lithium nicht beseitigen.
Zum Glück habe ich kaum Probleme mit den Nebenwirkungen der Medikamente. Einige können sich schlecht konzentrieren, andere haben großen Durst und müssen oft aufs Klo. Bei manchen fangen die Hände an zu zittern. Müde sind am Anfang alle. Das war ich auch, aber es wird schon besser. Sonst habe ich nichts. Es könnte sein, dass ich dicker werde. Bitte schön. Lieber ein dicker, fröhlicher Bär als eine traurig-nervöse Bohnenstange. Damit kann ich leben.
Schwerer fällt es mir, mich wieder bei der Arbeit vorzustellen. Seit fünf Jahren bin ich Regisseur beim Theater. Eigentlich wollte ich ja Schauspieler werden. Wo ich schon immer der Klassenclown war. Passt doch, habe ich gedacht. Kriegst du nicht nur Lacher und Applaus, sondern kannst, wenn es gut läuft, sogar davon leben. Aber auf den guten Schauspielschulen, den staatlichen, haben sie mich leider nicht genommen. Ich hatte vorher extra mit meinem Freund und Schauspiellehrer Heiner geübt. Ihn hatte ich am Altonaer Theater in Hamburg kennengelernt, als ich dort hospitierte. Ich war der Assistent vom Regieassistenten und bekam kein Geld für das, was ich tat. Dafür war ich morgens der Erste und abends der Letzte. Trotzdem hat es mir wahnsinnig Spaß gemacht. Die Leute waren ziemlich witzig und hatten nicht so einen Stock im Hintern wie die Erwachsenen in Niendorf. Ziemlich schnell konnte ich feststellen, dass aber fast jeder aus einer Art Niendorf kam. Und dass ich auch unbedingt auf die Bühne wollte. Schauspielen! Wollten viele. Und einige waren auch noch überzeugender als ich. Deshalb habe ich es immer nur bis in die letzte Runde geschafft. Also habe ich mich schließlich an einer privaten Schauspielschule in Hamburg beworben, für die man Geld bezahlen muss. Als-ob-Schauspielschule. Die haben mich gleich genommen. Klar. Am Anfang war alles sehr aufregend. Sprech-und Tanztraining, Singen, Tai-Chi, Fechten und Improvisation. Fechten fand ich besonders cool. Ich habe lauter Kombinationen einstudiert, die besonders eindrucksvoll aussehen für den Zuschauer. Wirkungsvoll. Ein bisschen wie bei Star Wars . Nur ohne Laserschwert, dafür mit Degen und Florett. Altmodischer. Aber die Technik ist dieselbe. Ich zeig Dir mal ein paar Tricks, wenn ich zu Hause bin. Irgendwo im Keller muss auch noch mein Degen liegen.
Nach einiger Zeit habe ich zu meiner Überraschung festgestellt, dass die Schüler nach ihrer Ausbildung nicht an den großen Bühnen, also im Hamburger Schauspielhaus, im Thalia Theater oder an der Wiener Burg Arbeit fanden, sondern in Parchim, Moers, Senftenberg oder an der Landesbühne Schleswig. Alles Orte, die Du nicht kennst? Siehst Du. Man sagt auch Provinz dazu. Das waren ursprünglich alle Gebiete außerhalb des Römischen Reiches, wie
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