Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?: Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg (German Edition)
es auch hingehört. SeitAndré Malraux’ Zeit als Kulturminister können Erben, die ein Kunstwerk besitzen, sich von der Erbschaftssteuer befreien, wenn sie das Werk, statt es zu verkaufen und vom Erlös die Steuer zu bezahlen, einem staatlichen Museum überlassen. Diese Regelung sollte zur Bereicherung der französischen Sammlungen beitragen, die nicht so gut ausgestattet sind wie viele im Ausland, und verhindern, dass Werke in alle Welt verstreut werden, die ihren Platz in den nationalen Museen haben sollten. Das wäre fast auch mit diesem Familienporträt geschehen: Ein reicher Texaner bot mir eine Summe, die weit über dem Betrag der Erbschaftssteuer lag, die ich zu bezahlen hatte. Aber dass es nach Houston verschwand, hätte meiner Mutter sicher nicht gefallen, und ich fand, es sei im Sinne meiner Familie, es dem Musée Picasso zu schenken. Ich bin stolz, dass es heute die Wände im Hôtel Salé schmückt.
Während ich es zum hundertsten Mal betrachte, versuche ich zu verstehen, warum Picasso meiner Großmutter einen so traurigen Gesichtsausdruck gab, und frage mich, warum meine doch sehr lebhafte Mutter auf dem Bild so pummelig ist. Kündigten sich hier schon die »Géants« an?
Im Herbst 1918 war das Porträt eine Sensation. Paul schrieb am 27. September an Picasso: »Jeder weiß, dass Picasso das Porträt meiner Frau und meiner Tochter gemalt hat. Léonce hat es von Cocteau gehört, und natürlich hoffte er, es sei kubistisch, obwohl Miche rondistisch[ 1 ] ist.«[ 2 ]
Vor allem das Gesicht meiner Großmutter ist charakteristisch für Picasso, es ähnelt den Porträts von Olga. Für die Historiker ist das Bild sehr wichtig, für meinen Geschmack hingegen zu streng, seine Schönheit berührt mich nicht. Aber keiner, der uns zu Hause besuchte, hätte gewagt, dieses Bild zu kritisieren, es war eine Art Familienikone.
Meiner Großmutter wäre es allerdings viel lieber gewesen, wenn Boldini, ein um die Jahrhundertwende bekannter mondäner Maler, sie gemalt hätte. Heiter und unkompliziert, wie sie war, hat sie das Picasso auch gesagt. Und der ging ans Werk, zeichnete ein schmeichelhaftes Porträt à la Boldini mit Volants, Sonnenschirm, Colliers und Federn, signierte mit Boldini und schickte es meiner Großmutter. Ich bin nicht sicher, auf welches von beiden sie stolzer war. Der Picasso wurde von den Deutschen gestohlen, aber gerade noch zurückgeholt, bevor er nach Berlin gebracht wurde. Der falsche Boldini hingegen verschwand während des Kriegs und wurde nie wiedergefunden.
Es gibt noch weitere Familienporträts von Picasso. 1919 malte er eine Gouache von meiner Mutter am Strand von Biarritz, ein kleines Mädchen in blauem Kleid, mit dicken Backen und zerzaustem Haar. Das Bild verschwand im Krieg und ist in den Sechzigerjahren auf abenteuerlichen Wegen wiederaufgetaucht: Ein sachkundiger Sammler, der in einem Café in Zentralfrankreich einen Anisette trank, entdeckte es und erkannte es als Porträt von Mademoiselle Rosenberg. Der Wirt hatte es während der Besatzung von einem Mann bekommen, der nach etwas Essbarem suchte, also buchstäblich für ein Butterbrot, und gab es bereitwillig meiner Großmutter zurück, die ihn natürlich großzügig entschädigte.
Auch Pauls Porträt, eine Zeichnung von 1919, deren Linienseither vom Tageslicht verblasst sind, ist anziehender. Es zeigt Paul elegant im Anzug mit Weste, mit Schnurrbart und Stiefeletten, entspannt in einem Sessel, den linken Arm lässig auf der Rückenlehne. Die rechte, schmalfingrige Hand mit der ewigen Zigarette ruht auf dem Knie. Dieses kleine Porträt ist wie das große Familienporträt in der Manier von Ingres gehalten, doch mit dem durchdringenden, maliziösen Blick meines Großvaters – typisch Picasso. »Eine Mischung aus Leichtigkeit und Sophistication, und dazu der intensive Blick, der sein Markenzeichen war.«[ 3 ]
Von zwei verschwundenen Picasso-Porträts meiner Mutter habe ich nur noch Fotos:
Micheline mit dem Häschen
und
Micheline als Krankenschwester
. Es waren Kohlezeichnungen, meine Mutter muss damals vier oder fünf Jahre alt gewesen sein. Wie die anderen wurden sie von den Deutschen gestohlen, aber sie sind nie wiederaufgetaucht. Vielleicht sind sie damals im Hof des Musée du Jeu de Paume in Rauch aufgegangen, oder sie hängen irgendwo in einem Kinderzimmer, in Russland, Berlin oder in der Gegend zwischen dem VII. und dem XVI. Arrondissement in Paris.
1 Nach der einflussreichen italienischen Literaturzeitschrift
La
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