LIEBES ABENTEUER
später zu kommen. Sie hätte wahrscheinlich einen Monat Wellnessurlaub verdient, aber Mei Ling ist nicht wie ich. Sie hat eine Geduld wie Hiob.
Ich stehe ein wenig hin- und hergerissen in der Tür. Soll ich meine Mutter mit Mrs. Novak allein lassen und befürchten, dass sie ihr all die Geschichten aus meiner Jugend erzählt? Zum Beispiel, als ich mit einem Rock auf dem Kopf tanzte und so tat, als wäre ich Madonna? Oder als ich mir bei meiner Abschlussrede am College am Rednerpult den Kopf anschlug und bewusstlos wurde?
»Ashley, geh den Tisch decken«, wiederholt meine Mutter noch einmal.
»Ich muss nur etwas zu Trinken holen für die Novak-Herren.« Ich gehe zum Kühlschrank und wühle extra lange darin herum, um mitzubekommen, ob es irgendetwas Interessantes zu hören gibt.
Meine Mutter und Mrs. Novak sprechen wieder über Erziehung - das ewig gleiche Gesprächsthema aller Mütter. Und es klingt, als ob sie unsere Lebensläufe vergleichen: Jurastudium, Medizinstudium, Abschlussreden, Collegeabschlüsse mit Auszeichnung und das Erziehen von zwei Kindern mit unterschiedlicher Persönlichkeit.
Anscheinend hat Kevin noch eine Schwester. Nach dem zu urteilen, was nicht über sie gesagt wird, muss sie etwas mit meinem Bruder Dave gemeinsam haben: nämlich, dass beide zwar wunderbare Menschen sind, aber sich nicht wirklich so entwickelt haben, wie man es sich als Mutter vielleicht wünscht. Ich beschäftige mich damit, die Marmeladengläser und die Preiselbeeren von einer Seite auf die andere zu schieben, und hoffe, noch mehr Informationen zu bekommen. Bei Seth hat es viel zu lange gedauert, bis ich wusste, dass er Bindungsangst hat. Als ich es dann endlich wusste, hatte ich mich schon längst zum Affen gemacht. Vielleicht sollte ich Herumspionieren als Berufserfahrung meinem Lebenslauf beifügen.
Mrs. Novak nimmt einen Schluck von ihrem Folgers-Kaffee, der Hausmarke meiner Mutter seit mehr als dreißig Jahren. »Dieser Kaffee schmeckt einfach wunderbar. Solchen Kaffee bekommt man in Atlanta nicht. Ich kann Ihnen sagen, Mary, ich bin wirklich froh, dass ich Sie und Ihren Mann kennen gelernt habe. Als Kevin mit diesem ganzen religiösen Kram angefangen hat, war ich ein wenig in Sorge, dass Ashley vielleicht ein komischer Vogel sein könnte.«
Oh ja, ich bin ein komischer Vogel. Ich ziehe meinen Kopf aus dem Kühlschrank und schaue Kevins Mutter an. Sie lächelt.
»Sie sind ganz und gar kein komischer Vogel, meine Liebe.«
Oh doch, glauben Sie mir.
»Wir haben bis heute noch gar nichts von Kevin gewusst, Elaine!«, platzt meine Mutter heraus. Elaine? Sieh an, Kevins Mutter hat auch einen Vornamen. »Ashley erzählt nie etwas. Wir dachten, sie sei mit einem anderen Mann so gut wie verlobt, und peng!, kommt sie an Thanksgiving mit einem Arzt an. Aber Kevin macht einen sehr netten Eindruck. Ihr letzter Freund, Seth, war einer mit Glatze. Da wären meine Enkel schon mit Mitte zwanzig kahl gewesen. Junge Frauen denken einfach nie an die Zukunft.«
»Mama, ich bin immer noch hier.« Männer mit Glatze? Immer her damit!
»Ich weiß, mein Liebling. Ich mochte diesen Seth nur nie wirklich.« Seit wann? Seit fünf Minuten?
»Ashley, was treibst du da eigentlich im Kühlschrank? Bring den Männern ihre Getränke und dann deck den Tisch.«
»Kevin ist der Inbegriff eines Südstaatengentleman«, sagt Elaine. »Er war schon immer so, voller Zuneigung und Sorge um andere. Als er noch ein kleiner Junge war, hat er sich immer am Kindermädchen vorbeigeschlichen und mir Guten Morgen gesagt. Als er Arzt wurde, dachte ich: Oh wie wunderbar! Er tritt in die Fußstapfen seines Vaters. Aber er ist ganz anders als sein Vater. Sein Vater ist so wie die meisten Ärzte, sehr direkt, ein Denker. Kevin war nie so. Er war immer warmherzig, und ich habe mich gefragt, wie er als Arzt zurechtkommen würde. Aber ich glaube, dazu hat er jetzt seine Religion gefunden.«
Ich beobachte meine Mutter, die Kevins Mutter aufmerksam zuhört, und stelle plötzlich fest, dass es nie einen Grund zur Sorge gab. Mary Stockingdale ist der Inbegriff von guten Manieren und Gastfreundschaft. Es mag zwar nicht das sein, was Mrs. Novak gewöhnt ist, aber meine Mutter könnte es mit Queen Elizabeth aufnehmen.
Ich mache mir Sorgen um meine Mutter, und dabei bin ich es, die ein Problem hat. Ich muss laut lachen, und die beiden Mütter schauen mich an.
»Ich gehe schon den Tisch decken.«
Als ich ins Wohnzimmer komme, haben es sich alle gemütlich gemacht. Die
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