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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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ignorierten sie uns auch), oder zogen so eine Fratze und warfen uns scheußliche Schimpfwörter an den Kopf. Wenn ich in die Nähe eines Jungen geriet, wurde ich starr und wusste nicht, was tun. Natürlich war es anders, wenn Erwachsene dabei waren. Die Jungen hier hielten den Mund, aber ich fühlte mich ziemlich unbehaglich, bis jemand die beiden zurück in die Küche riss. Dann fiel mir die besonders sanfte und mitfühlende Stimme meiner Mutter auf, sogar noch damenhafter als die Stimme der Frau, mit der sie redete, und ich dachte, vielleicht galt die Fratze ihr. Manchmal ahmten welche ihre Stimme nach, wenn sie mich von der Schule abholte.
    Die Frau, mit der sie redete und die alles zu regeln schien, führte uns in einen Teil des Zimmers, wo ein Mann und eine Frau auf einem Sofa saßen und aussahen, als verstünden sie nicht ganz, warum sie da waren. Meine Mutter beugte sich vor, redete sehr respektvoll auf sie ein und deutete auf mich.
    »Sie hat Sadie sehr geliebt«, sagte sie. Ich wusste, dass ich daraufhin etwas sagen musste, aber bevor ich ein Wort herausbrachte, stieß die Frau, die dort saß, ein lautes Geheul aus. Sie sah niemanden von uns an, und das Geräusch, das sie von sich gab, klang, als würde sie von einem Tier gebissen oder angefressen. Sie schlug sich auf die Arme, als wollte sie etwas – was es nun auch war – loswerden, aber es ging nicht weg. Sie sah meine Mutter an, als sei es deren Aufgabe, das Übel abzustellen.
    Der alte Mann ermahnte sie, still zu sein.
    »Es trifft sie sehr schwer«, sagte die Frau, die uns führte. »Sie weiß nicht, was sie tut.« Sie beugte sich vor und sagte: »Na, na. Du wirst noch das kleine Mädchen erschrecken.«
    »Ja, das kleine Mädchen erschrecken«, wiederholte der alte Mann gehorsam.
    Als er das ausgesprochen hatte, gab die Frau nicht mehr das Geräusch von sich und betastete ihre geschundenen Arme, als wüsste sie nicht, was damit passiert war.
    Meine Mutter sagte: »Die arme Frau.«
    »Und dazu das einzige Kind«, sagte die Frau, die uns führte. Zu mir sagte sie: »Mach dir keine Sorgen.«
    Ich machte mir Sorgen, aber nicht wegen des Geschreis.
    Ich wusste, dass Sadie irgendwo war, und ich wollte sie nicht sehen. Meine Mutter hatte nicht direkt gesagt, dass ich sie sehen musste, aber sie hatte auch nicht gesagt, dass ich sie nicht zu sehen brauchte.
    Sadie war tödlich verunglückt, als sie aus dem Royal-T nach Hause ging. Auf dem kleinen Stück Kiesweg zwischen dem Parkplatz, der zum Tanzsaal gehörte, und dem Anfang des Bürgersteigs hatte ein Auto sie überfahren. Bestimmt war sie schnell gelaufen, wie sie es immer tat, und dachte zweifellos, dass die Autos sie sehen konnten oder dass sie ebenso viel Recht hatte, da zu sein wie die Autos, und vielleicht machte das Auto hinter ihr einen Schlenker oder vielleicht war sie nicht genau da, wo sie zu sein meinte. Sie wurde von hinten überfahren. Das Auto, das sie überfuhr, machte einem Auto dahinter Platz, und dieses zweite Auto wollte das erste auf eine Nebenstraße abdrängen. Es war einiges an Alkohol im Tanzsaal getrunken worden, obwohl es dort keinen zu kaufen gab. Und es wurde immer gehupt und gejohlt und viel zu schnell gefahren, wenn der Tanzabend zu Ende war. Sadie, die rasch lief und nicht mal eine Taschenlampe dabei hatte, verhielt sich bestimmt, als müssten alle anderen ihr Platz machen.
    »Ein Mädchen geht zu Fuß ganz allein tanzen«, sagte die Frau, die immer noch sehr freundlich mit meiner Mutter redete. Sie sprach leise, und meine Mutter murmelte etwas Bedauerndes.
    Das hieß, das Schicksal herausfordern, sagte die freundliche Frau noch leiser.
    Ich hatte zu Hause ein Gespräch mit angehört, das ich nicht verstand. Meine Mutter wollte etwas unternehmen, das vielleicht mit Sadie und dem Auto, das sie überfahren hatte, zusammenhing, aber mein Vater wollte nichts davon wissen. Wir haben in der Stadt nichts zu suchen, sagte er. Ich versuchte erst gar nicht, das zu verstehen, weil ich mich anstrengte, nicht an Sadie zu denken oder gar daran, dass sie tot war. Als mir klargeworden war, dass wir zu Sadies Haus fuhren, sträubte sich alles in mir dagegen, aber ich sah keine Möglichkeit, da herauszukommen außer, indem ich mich ungeheuer ungehörig benahm.
    Jetzt, nach dem Ausbruch der alten Frau, fand ich, wir könnten gehen und nach Hause fahren. Dann brauchte ich nicht die Wahrheit zuzugeben, nämlich, dass ich furchtbare Angst vor einer Leiche hatte.
    Gerade als ich das für möglich

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