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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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aussichtslos. War ich es, wie ich früher war, mit meinen Korkenzieherlocken, für die ich gerne still stand, meinem gelehrigen Aufsagen der Sonntagsschulverse? Für so etwas blieb ihr keine Zeit mehr. Und etwas in mir wandelte sich zur Verräterin, obwohl sie nicht wusste, warum, und ich wusste es auch nicht. Ich hatte mich in der Sonntagsschule mit keinem der Mädchen aus der Stadt angefreundet. Stattdessen betete ich Sadie an. Ich hörte meine Mutter das zu meinem Vater sagen. »Sie betet Sadie an.«
    Mein Vater sagte, Sadie sei ein Geschenk des Himmels. Was bedeutete das? Er klang fröhlich. Vielleicht bedeutete es, dass er nicht Partei ergreifen wollte.
    »Ich wünschte, wir hätten richtige Bürgersteige für sie«, sagte meine Mutter. »Wenn wir richtige Bürgersteige hätten, könnte sie vielleicht Rollschuh laufen und Freundinnen finden.«
    Ich hatte mir schon immer Rollschuhe gewünscht. Aber jetzt, ohne die geringste Ahnung, warum, wusste ich, dass ich es nie zugeben würde.
    Dann sagte meine Mutter so etwas wie, besser, wenn die Schule anfängt. Etwas wie, besser für mich, oder etwas über Sadie, das besser wäre. Ich wollte es nicht hören.
    Sadie brachte mir einige ihrer Lieder bei, und ich wusste, ich konnte nicht besonders gut singen. Ich hoffte, dass es nicht das war, was besser werden oder aufhören musste. Ich wollte auf keinen Fall, dass es aufhörte.
    Mein Vater hatte nicht viel zu sagen. Alles war Sache meiner Mutter, was sich erst änderte, als ich wirklich frech wurde und bestraft werden musste. Er wartete darauf, dass mein Bruder älter wurde und ihm gehörte. Ein Junge war nicht so kompliziert.
    Und das war mein Bruder dann auch nicht. Er machte sich einfach prächtig.
     
     
    Inzwischen hat die Schule angefangen. Schon vor einigen Wochen, bevor das Laub rot und gelb wurde. Jetzt ist es fast ganz verschwunden. Ich trage nicht meinen Schulmantel, sondern meinen guten Mantel, den mit dem Kragen und den Ärmelaufschlägen aus dunklem Pelz. Meine Mutter trägt den Mantel, den sie für den Kirchgang anzieht, und ein Turban bedeckt den größten Teil ihrer Haare.
    Meine Mutter sitzt am Steuer und fährt, wohin immer wir nun gerade unterwegs sind. Sie fährt nicht oft, aber wenn, dann gemessener und doch unsicherer als mein Vater. Sie drückt vor jeder Kurve auf die Hupe.
    »So«, sagt sie, aber es dauert einige Zeit, bis sie das Auto eingeparkt hat.
    »Da sind wir.« Ihre Stimme scheint mich ermutigen zu wollen. Sie berührt meine Hand, um mir die Gelegenheit zu geben, ihre zu ergreifen, aber ich tue so, als merkte ich es nicht, und sie zieht ihre Hand zurück.
    Das Haus hat keine Auffahrt, auch keinen Bürgersteig. Es ist ordentlich, aber sehr schlicht. Meine Mutter hat ihre behandschuhte Hand gehoben, um zu klopfen, aber es stellt sich heraus, dass das nicht notwendig ist. Die Tür wird uns geöffnet. Meine Mutter hat gerade angefangen, etwas Ermutigendes zu mir zu sagen – etwas wie, es wird schneller gehen, als du denkst –, aber sie wird nicht damit fertig. Der Ton, in dem sie zu mir gesprochen hat, war etwas streng, aber leicht tröstlich. Er verändert sich, als die Tür sich öffnet, wird gemäßigter, sanfter, als senkte sie das Haupt.
    Die Tür ist geöffnet worden, um einige Leute herauszulassen, nicht nur, um uns hereinzulassen. Eine der Frauen, die herauskommen, ruft mit einer Stimme, die sich überhaupt nicht um Sanftheit bemüht, ins Haus zurück: »Für die hat sie gearbeitet, für die und das kleine Mädchen.«
    Dann kommt eine Frau, die sich sichtlich feingemacht hat, spricht meine Mutter an und hilft ihr aus dem Mantel. Nachdem das getan ist, zieht meine Mutter mir den Mantel aus und sagt zu der Frau, dass ich Sadie besonders gern hatte. Sie hofft, es ist recht, dass sie mich mitgebracht hat.
    »Ach, die liebe Kleine«, sagt die Frau, und meine Mutter berührt mich leicht, damit ich Hallo sage.
    »Sadie hat Kinder geliebt«, sagt die Frau. »Ja, das hat sie.«
    Mir fällt auf, dass noch zwei andere Kinder da sind. Jungen. Ich kenne sie aus der Schule, einer ist mit mir in der ersten Klasse, der andere ist älter. Sie spähen aus einem Raum, der wahrscheinlich die Küche ist. Der Jüngere stopft sich auf komische Art einen ganzen Keks in den Mund, und der andere, der Ältere, zieht eine angewiderte Fratze. Nicht über den Keksmampfer, sondern über mich. Sie hassen mich natürlich, Jungen ignorierten uns Mädchen, wenn sie uns irgendwo außerhalb der Schule trafen (dort

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