Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
Abend davor ist sie bis vier Uhr aufgeblieben, damit es fertig wird.«
Weiteres Herumwirbeln und -stampfen, um das Kostüm vorzuführen. Das Geschirr klirrte auf den Borden. Ich klatschte noch einmal. Beide wollten wir nur eins. Wir wollten, dass der Doktor sich umdrehte und aufhörte, uns zu ignorieren. Dass er, wenn auch widerwillig, ein einziges höfliches Wort sagte.
»Und schauen Sie mal, was noch«, sagte Mary. »Zum Valentinstag.« Sie riss den Karton auf, und er war voller Valentinskekse, alle in Herzform und mit dickem roten Zuckerguss.
»Wie herrlich«, sagte ich, und Mary hüpfte wieder umher.
Ich bin der Käpt’n Hagestolz,
Die See ist meine Braut,
Mein Schiff, das ist aus Eichenholz
Und Messingzeug gebaut.
Der Doktor drehte sich endlich um, und sie salutierte ihm.
»Ist gut«, sagte er. »Das reicht.«
Sie beachtete ihn nicht.
Ich hab auch fünf Kanonen,
Darinnen Kugeln wohnen,
Die schießen auf Piraten …
»Ich sagte, das reicht.«
»›Und andre Höllenbraten …‹«
»Mary. Wir essen gerade. Und du bist nicht eingeladen. Verstehst du das? Nicht eingeladen.«
Sie war endlich still. Aber nur für einen Augenblick.
»Dann Pfui über Sie. Sie sind gar nicht nett.«
»Und du könntest sehr gut auch ohne diese Kekse auskommen. Du könntest ganz und gar aufhören, Kekse zu essen. Du bist dabei, so dick zu werden wie ein kleines Schwein.«
Marys Gesicht war aufgequollen, als würde sie gleich zu weinen anfangen, aber stattdessen sagte sie: »Sie müssen reden! Ihr eines Auge steht ganz schief zum anderen.«
»Das reicht.«
»Stimmt aber.«
Der Doktor griff sich ihre Stiefel und stellte sie vor sie hin.
»Zieh die an.«
Sie tat es, mit Tränen in den Augen und mit laufender Nase. Sie zog lautstark hoch. Er brachte ihr den Mantel und half ihr nicht, als sie sich hineinstocherte und die Knöpfe suchte.
»So ist’s gut. Wie bist du denn hergekommen?«
Sie weigerte sich zu antworten.
»Du bist also gelaufen? Wo ist deine Mutter?«
»Spielt Whist.«
»Dann werde ich dich nach Hause fahren. Damit du keine Gelegenheit bekommst, dich in eine Schneewehe zu stürzen und aus Selbstmitleid zu erfrieren.«
Ich sagte kein Wort. Mary würdigte mich keines Blickes. Der Augenblick war zu angespannt für einen Abschiedsgruß.
Als ich das Auto abfahren hörte, fing ich an, den Tisch abzuräumen. Wir waren nicht zum Nachtisch gelangt, der wieder aus gedecktem Apfelkuchen bestand. Vielleicht kannte er keinen anderen, oder vielleicht war das alles, was die Bäckerei zu bieten hatte.
Ich nahm mir einen der herzförmigen Kekse und aß ihn. Der Zuckerguss war schrecklich süß. Kein Obstgeschmack, nur Zucker und rote Lebensmittelfarbe. Ich aß einen nach dem anderen.
Ich wusste, dass ich zumindest hätte auf Wiedersehen sagen sollen. Ich hätte danke sagen sollen. Aber darauf wäre es nicht angekommen. Redete ich mir ein. Die Vorführung war nicht für mich bestimmt. Oder vielleicht war nur ein kleiner Teil davon für mich bestimmt.
Er war grausam gewesen. Es erschreckte mich, wie grausam er gewesen war. Zu jemandem, der so bedürftig war. Aber er hatte es in gewisser Weise für mich getan. Damit seine Zeit mit mir nicht verringert wurde. Dieser Gedanke schmeichelte mir, und ich schämte mich, dass er mir schmeichelte. Ich wusste nicht, was ich zu ihm sagen sollte, wenn er zurückkam.
Er wollte nicht, dass ich irgendetwas sagte. Er ging mit mir ins Bett. Hatte das die ganze Zeit über in der Luft gelegen, oder war es für ihn fast so eine Überraschung wie für mich? Meine Jungfräulichkeit zumindest schien keine Überraschung zu sein – er sorgte für ein Handtuch und ein Kondom –, und er machte weiter, so sanft, wie er konnte. Meine Leidenschaftlichkeit war vielleicht für uns beide eine Überraschung. Phantasie, so stellte sich heraus, konnte eine ebenso gute Vorbereitung sein wie Erfahrung.
»Ich habe vor, dich zu heiraten«, sagte er.
Bevor er mich nach Hause brachte, warf er alle Kekse, all die roten Herzen, hinaus in den Schnee, als Futter für die Wintervögel.
Also war sie ausgemacht. Unsere plötzliche Verlobung – er scheute vor dem Wort ein wenig zurück – war eine nur zwischen uns beiden ausgemachte Tatsache. Ich durfte meinen Großeltern kein Wort davon schreiben. Die Hochzeit sollte stattfinden, sobald er ein paar Tage hintereinander freimachen konnte. Eine schlichte Hochzeit, sagte er. Er gab mir zu verstehen, dass die Vorstellung von einer Zeremonie,
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