Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
stieg. Ein Kuss mit trockenen Lippen, kurz und förmlich, hastig und von Amts wegen verabreicht.
Der Schlüssel zu seinem Haus lag eines Tages auf dem Fußboden in meinem Zimmer, unter der Tür durchgeschoben, als ich nicht da war. Aber ich konnte ihn dann doch nicht benutzen. Wenn mir irgendjemand anders dieses Angebot gemacht hätte, wäre ich bereitwillig darauf eingegangen. Besonders, da es ein Heizgerät einschloss. Aber in seinem Fall hätte sein bisheriges und künftiges Verhalten der Situation alle normale Gemütlichkeit genommen und sie durch einen Reiz ersetzt, der eher beengend und nervenaufreibend war als befreiend. Ich hätte nicht aufhören können zu frösteln, auch wenn es gar nicht kalt war, und ich bezweifelte, ob ich fähig gewesen wäre, auch nur ein Wort zu lesen.
Ich dachte daran, dass Mary wahrscheinlich auf den Plan treten würde, um mir vorzuwerfen, dass ich die
Seemannsbraut
versäumt hatte. Ich dachte daran, zu sagen, dass ich nicht auf dem Posten gewesen sei, eine Erkältung gehabt hätte. Aber dann fiel mir ein, dass Erkältungen hier eine ernste Angelegenheit waren, verbunden mit Atemmasken, Desinfizierung und Quarantäne. Und bald verstand ich auch, dass es ohnehin hoffnungslos war, meinen Besuch im Haus des Doktors zu verheimlichen. Er war niemandem verborgen geblieben, sicherlich nicht einmal den Krankenschwestern, die nichts sagten, entweder, weil sie zu diskret waren oder weil es sie nicht mehr interessierte. Aber die Hilfsschwestern neckten mich.
»Schönes Essen gestern Abend?«
Ihr Ton war freundlich, sie schienen es gutzuheißen. Es sah so aus, als hätte sich meine spezifische Eigenart mit der vertrauten und geachteten Eigenart des Doktors zusammengetan, und das war von Vorteil. Meine Aktien waren gestiegen. Jetzt, egal, was ich sonst noch war, kam ich zumindest in Betracht als eine Frau mit einem Mann.
Mary ließ sich die ganze Woche über nicht blicken.
»Nächsten Samstag« waren die Worte, die fielen, unmittelbar bevor er mir den Kuss verabreichte. Also wartete ich wieder auf der vorderen Terrasse, und diesmal kam er nicht zu spät. Wir fuhren zum Haus, und ich ging ins Vorderzimmer, während er Feuer machte. Dort fiel mein Blick auf das verstaubte elektrische Heizgerät.
»Sie haben von meinem Angebot keinen Gebrauch gemacht«, sagte er. »Dachten Sie, ich hab’s nicht ernst gemeint? Ich meine immer, was ich sage.«
Ich sagte, ich hätte nicht in die Stadt kommen wollen aus Angst, Mary zu begegnen.
»Weil ich ihre Aufführung versäumt habe.«
»Das heißt, Sie wollen sich in Ihrem Leben ganz nach Mary richten«, sagte er.
Die Zusammensetzung der Mahlzeit war ziemlich unverändert. Schweinekoteletts, Kartoffelbrei, Dosenmais statt der Erbsen. Diesmal ließ er mich in der Küche helfen, bat mich sogar, den Tisch zu decken.
»Schauen Sie ruhig, wo die Sachen sind. Es ist alles recht logisch, glaube ich.«
Das bedeutete, ich konnte ihm beim Hantieren am Herd zusehen. Seine unangestrengte Konzentration, seine sparsamen Bewegungen lösten bei mir eine Prozession von Funken und Schauern aus.
Wir hatten gerade zu essen begonnen, als es an die Tür klopfte. Er stand auf, zog den Riegel zurück, und Mary platzte herein.
Sie trug einen Karton, den sie auf den Tisch stellte. Dann warf sie den Mantel ab und präsentierte sich in einem rotgrünen Kostüm.
»Späte Glückwünsche zum Valentinstag«, sagte sie. »Sie sind gar nicht gekommen, um mich in der Aufführung zu sehen, also komme ich mit der Aufführung zu Ihnen. Und ich hab Ihnen in dem Karton ein Geschenk mitgebracht.«
Ihr guter Gleichgewichtssinn erlaubte ihr, jeweils auf einem Bein zu stehen, während sie erst den einen, dann den anderen Stiefel abstreifte. Sie stieß beide aus dem Weg und fing an, um den Tisch zu tänzeln, dabei sang sie mit klagender, aber kräftiger junger Stimme.
Man nennt mich fleißiges Lieschen,
Armes fleißiges Lieschen,
Ich weiß überhaupt nicht, warum.
Ich bleibe das fleißig Lieschen.
Das arme fleißige Lieschen,
Dabei bin ich doch gar nicht so dumm …
Der Doktor war aufgestanden, noch bevor sie anfing zu singen. Er stand am Herd und kratzte die Pfanne aus, in der die Schweinekoteletts gelegen hatten.
Ich klatschte Beifall. Ich sagte: »Was für ein prächtiges Kostüm.«
Das war es wirklich. Roter Rock, hellgrüner Unterrock, flatternde weiße Schürze, besticktes Mieder.
»Meine Mama hat’s gemacht.«
»Sogar die Stickerei?«
»Klar. Am
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