Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
Settembrini?«
»Um ehrlich zu sein, ich habe sie immer für zwei Schwätzer gehalten. Und Sie?«
»Settembrini ist humaner, aber Naphta ist interessanter.«
»Hat man Ihnen das in der Schule beigebracht?«
»In der Schule kam das Buch nie dran«, sagte ich gleichmütig.
Er warf mir einen kurzen Blick zu, mit gehobener Augenbraue.
»Verzeihen Sie. Wenn da drüben irgendetwas ist, was Sie interessiert, bitte. Sie können jederzeit herkommen und in Ihrer Freizeit lesen. Ich habe ein elektrisches Heizgerät, das ich aufstellen kann, denn ich denke mal, Sie sind mit Holzöfen nicht vertraut. Wäre das was? Ich kann Ihnen einen Schlüssel organisieren.«
»Danke.«
Schweinekoteletts zum Abendessen, Kartoffelbrei, Dosenerbsen. Die Nachspeise war gedeckter Apfelkuchen aus der Bäckerei, der besser gewesen wäre, wenn er daran gedacht hätte, ihn warm zu machen.
Er fragte mich nach meinem Leben in Toronto, meinen Seminaren an der Universität, meinen Großeltern. Er sagte, er nehme an, ich sei zum Pfad der Tugend erzogen worden.
»Mein Großvater ist ein liberaler Pfarrer, so in der Richtung von Paul Tillich.«
»Und Sie? Liberale kleine christliche Enkeltochter?«
»Nein.«
»
Touché
. Halten Sie mich für unhöflich?«
»Kommt drauf an. Wenn Sie mich als Arbeitgeber befragen, nein.«
»Also mache ich weiter. Haben Sie einen Freund?«
»Ja.«
»Bei den Streitkräften, nehme ich an.«
Bei der Marine, sagte ich. Das fand ich eine gute Wahl, denn es erklärte, warum ich nie wusste, wo er war, und warum ich nicht regelmäßig Post bekam. Ich konnte vortäuschen, dass er keinen Landurlaub erhielt.
Der Doktor stand auf und holte den Tee.
»Auf was für einem Schiff ist er?«
»Einer Korvette.« Wieder eine gute Wahl. Nach einer Weile konnte ich behaupten, er sei torpediert worden, wie es Korvetten andauernd passierte.
»Tapferer Bursche. Milch oder Zucker für Ihren Tee?«
»Beides nicht, danke.«
»Das ist gut, weil ich beides nicht dahabe. Man sieht Ihnen übrigens an, wenn Sie lügen, Sie werden rot im Gesicht.«
Spätestens da, falls nicht vorher, wurde ich rot. Die heiße Röte stieg von meinen Füßen auf, und Schweiß rann aus meinen Achseln herunter. Hoffentlich ruinierte das nicht mein Kleid.
»Mir wird immer heiß, wenn ich Tee trinke.«
»Verstehe.«
Schlimmer konnte es nicht werden, also beschloss ich, ihn in die Schranken zu weisen. Ich wechselte das Thema und erkundigte mich nach seinen Operationen. Entfernte er Lungenflügel, wie ich es gehört hatte?
Er hätte das mit weiteren Sticheleien, weiterer Überlegenheit – womöglich seine Vorstellung von einem Flirt – beantworten können, und ich glaube, wenn er es getan hätte, hätte ich meinen Mantel angezogen und wäre in die Kälte hinausmarschiert. Und vielleicht wusste er das. Er fing an, von Thorakoplastik zu reden, und erklärte, sie sei jedoch für den Patienten nicht so leicht wie die Entleerung und Ruhigstellung eines Lungenflügels. Was interessanterweise schon Hippokrates bekannt war. Natürlich ging man in letzter Zeit auch immer mehr dazu über, den Lungenflügel zu entfernen.
»Aber verlieren Sie nicht einige?«, fragte ich.
Er musste gedacht haben, es sei wieder an der Zeit für Witze.
»Aber selbstverständlich. Rennen weg und verstecken sich im Wald, wir haben keine Ahnung, wo sie hinlaufen … Ob sie in den See springen … Oder meinten Sie, sterben sie nicht? Es gibt Fälle, wo es nicht klappt. Ja.«
Aber große Dinge seien im Kommen, sagte er. Die Operationen, die er vornahm, würden bald so überholt sein wie der Aderlass. Ein neues Medikament war auf dem Weg. Streptomycin. Schon in der Erprobung. Einige Probleme, natürlich würden Probleme auftreten. Toxisch für das Nervensystem. Aber man werde einen Weg finden, damit fertig zu werden.
»Wird die Knochenschuster wie mich arbeitslos machen.«
Er wusch das Geschirr, ich trocknete es ab. Er band mir ein Geschirrtuch um die Taille, um mein Kleid zu schonen. Als die Enden fest verknüpft waren, legte er die Hände auf meinen Rücken. Der feste Druck, die gespreizten Finger – es hätte beinahe eine berufliche Bestandsaufnahme meines Körpers sein können. Als ich an jenem Abend zu Bett ging, konnte ich immer noch diesen Druck spüren. Ich spürte, wie dessen Intensität vom kleinen Finger bis zum harten Daumen wanderte. Ich genoss es. Das war eigentlich wichtiger als der Kuss, den er mir später auf die Stirn drückte, direkt bevor ich aus seinem Auto
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