Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
sechsundvierzig Jahren. Sie sollte in der Kirche der Gesalbten des Herrn beigesetzt werden, Trauerfeier um zwei Uhr.
Na gut.
Dies war einer der beiden Tage in der Woche, an denen die Bibliothek laut Plan geöffnet war. Corrie konnte nicht hingehen.
Die Kirche der Gesalbten des Herrn war eine der neuen in der Stadt. Nichts florierte hier mehr, nur noch das, was ihr Vater »Spinner-Religionen« genannt hatte. Sie konnte das Gebäude von einem der Bibliotheksfenster aus sehen.
Sie stand vor zwei Uhr am Fenster und sah eine beachtliche Anzahl von Leuten hineingehen.
Hüte schienen heutzutage nicht mehr erforderlich zu sein, weder auf Frauen noch auf Männern.
Wie sollte sie es ihm mitteilen? Am besten wohl in einem Brief an sein Büro. Sie konnte ihn dort anrufen, aber dann musste er so beherrscht, so nüchtern reagieren, dass von dem Wunder ihrer Erlösung kaum etwas übrig blieb.
Sie kehrte zu ihrem
Gatsby
zurück, doch sie las nur Wörter, sie war zu unruhig. Sie schloss die Bibliothek ab und lief durch die Stadt.
Es hieß immer, dass diese Stadt wie ein Leichenbegängnis war, wenn jedoch ein richtiges Leichenbegängnis stattfand, dann zeigte sie sich so lebendig, wie sie nur konnte. Daran wurde Corrie erinnert, als sie aus einiger Entfernung beobachtete, wie die Trauergäste aus der Kirche kamen und stehen blieben, um zu plaudern und den feierlichen Ernst abzulegen. Dann sah sie überrascht mit an, dass viele von ihnen um die Kirche herum zu einer Seitentür spazierten und wieder darin verschwanden.
Natürlich. Das hatte sie vergessen. Nach der Trauerfeier, nachdem der geschlossene Sarg auf die Bahre gestellt worden war, folgten jene, die der Toten nahe genug gestanden hatten, dem Sarg, bis er in die Erde gesenkt wurde, während alle anderen sich zum Leichenschmaus begaben. Der würde sie in einem anderen Teil der Kirche erwarten, wo sich eine Sonntagsschule befand sowie eine Teeküche.
Sie sah keinen Grund, warum sie sich ihnen nicht anschließen sollte.
Aber im letzten Augenblick wäre sie lieber vorbeigegangen.
Zu spät, eine Frau rief sie mit herausfordernder – oder zumindest sehr diesseitiger – Stimme von der Tür aus, zu der die anderen hineingegangen waren.
Diese Frau sagte zu ihr, als sie nahe genug war: »Wir haben Sie auf der Trauerfeier vermisst.«
Corrie hatte keine Ahnung, wer die Frau war. Sie sagte, dass es ihr sehr leidtat, nicht teilgenommen zu haben, aber sie hatte die Bibliothek offenhalten müssen.
»Ja, natürlich«, sagte die Frau, hatte sich aber schon abgewandt, um einer Frau zu antworten, die einen Kuchen trug.
»Ist dafür noch Platz im Kühlschrank?«
»Ich weiß nicht, Liebchen, Sie müssen einfach mal nachschauen.«
Corrie hatte, ausgehend von dem geblümten Kleid der Frau an der Tür, angenommen, dass die Frauen drinnen alle etwas Ähnliches tragen würden. Sonntagsstaat, wenn nicht Trauerstaat. Aber vielleicht waren ihre Vorstellungen von Sonntagsstaat veraltet. Einige der Frauen trugen Hosen, wie sie selbst auch.
Eine andere Frau brachte ihr ein Stück Gewürzkuchen auf einem Plastikteller.
»Sie müssen doch Hunger haben«, sagte sie. »Alle anderen haben jedenfalls welchen.«
Eine Frau, die früher Corries Friseuse war, sagte: »Ich hab allen gesagt, Sie würden wahrscheinlich vorbeischauen. Ich hab denen gesagt, Sie können erst, wenn Sie die Bibliothek zugemacht haben. Ich hab gesagt, zu schade, dass Sie den Trauergottesdienst versäumen müssen. Hab ich gesagt.«
»Es war ein wunderschöner Trauergottesdienst«, sagte eine andere Frau. »Sie möchten bestimmt einen Tee, wenn Sie mit dem Kuchen fertig sind.«
Und so weiter. Ihr fiel kein einziger Name ein. Die vereinigte und die presbyterianische Kirche hielten sich gerade noch so, die anglikanische Kirche hatte schon vor langer Zeit dichtgemacht. Gingen jetzt alle hierher?
Es gab nur eine andere Frau in der Runde, die ähnlich viel Aufmerksamkeit erhielt wie Corrie und die so gekleidet war, wie Corrie es von einer Frau auf einer Beerdigung erwartete. Ein hübsches fliedergraues Kleid und ein dezenter grauer Sommerhut.
Die Frau wurde zu ihr herübergeführt, um ihre Bekanntschaft zu machen. Eine Kette von bescheidenen echten Perlen um den Hals.
»Ah, ja.« Sie sprach mit leiser Stimme, so erfreut, wie es der Anlass gestattete. »Sie müssen Corrie sein. Die Corrie, von der ich schon so viel gehört habe. Obwohl wir uns nie begegnet sind, hatte ich immer das Gefühl, Sie zu kennen. Aber Sie wollen
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