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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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ist.
    Und wacht früh auf, als der Himmel hell wird, obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen ist.
    Es gibt immer einen Morgen, an dem einem klar wird, dass die Vögel alle fort sind.
    Sie weiß etwas. Sie ist im Schlaf darauf gekommen.
    Es gibt keine Neuigkeit, die sie ihm mitteilen muss. Es gibt keine Neuigkeit, weil es nie eine gab.
    Keine Neuigkeit über Lillian, weil Lillian keine Rolle spielt und nie eine gespielt hat. Kein Postfach, weil das Geld sofort auf ein Konto wandert oder vielleicht nur in eine Brieftasche. Allgemeine Ausgaben. Oder ein Notgroschen. Eine Reise nach Spanien. Egal. Männer mit Familien, Ferienhäusern, Kindern in der Ausbildung, unbezahlten Rechnungen – die brauchen nicht darüber nachzudenken, wie sie dieses Geld ausgeben sollen. Es kann nicht mal ein warmer Regen genannt werden. Nicht nötig, es zu erklären.
    Sie steht auf, zieht sich rasch an, geht durch jedes Zimmer im Haus und stellt den Wänden und Möbeln diese neue Idee vor. Ein Hohlraum überall, vor allem in ihrer Brust. Sie kocht Kaffee und trinkt ihn nicht. Sie landet wieder in ihrem Schlafzimmer und stellt fest, dass die Umstellung auf die neue Wirklichkeit ganz von vorn anfangen muss.
     
     
    Die kürzeste Mitteilung, in den Briefkasten eingeworfen.
    »Lillian ist tot, gestern beerdigt.«
    Sie schickt den Brief an sein Büro, es kommt nicht darauf an. Per Einschreiben? Ach was.
    Sie stellt das Telefon ab, um nicht unter dem Warten zu leiden. Dem Schweigen. Es kann sein, dass sie nie wieder etwas hört.
    Doch bald ein Brief, kaum länger als ihrer.
    »Jetzt alles gut, sei froh. Bald.«
    Dabei werden sie es also belassen. Zu spät, um etwas anderes zu tun. Denn es hätte schlimmer kommen können, viel schlimmer.

Zug
    D as ist ohnehin ein langsamer Zug, und er hat vor der Kurve noch abgebremst. Jackson ist inzwischen der einzige Fahrgast, bis zum nächsten Halt in Clover sind es noch ungefähr zwanzig Meilen. Danach kommen Ripley, Kincardine und der See. Er hat also Glück, und das muss man nutzen. Schon hat er seine Fahrkarte aus dem Schlitz über seinem Platz herausgezogen.
    Er wirft seine Tasche hinaus und sieht sie gut landen, zwischen den Gleisen. Jetzt bleibt ihm keine Wahl – langsamer wird der Zug nicht mehr.
    Er ergreift die Gelegenheit. Ein junger Mann, gut in Form, so gelenkig, wie er je sein wird. Aber der Sprung, die Landung enttäuschen ihn. Er ist steifer, als er dachte, der abrupte Stillstand schleudert ihn nach vorn, seine Handflächen treffen hart auf den Schotter zwischen den Schwellen, er schrammt sich die Haut auf. Schlechte Nerven.
    Der Zug ist nicht mehr zu sehen, er hört ihn hinter der Kurve etwas beschleunigen. Er spuckt auf seine schmerzenden Hände, polkt den Schotter heraus. Greift sich dann seine Tasche und läuft zurück in die Richtung, aus der er eben mit dem Zug gekommen ist. Wenn er dem Zug nachginge, würde er im Bahnhof von Clover lange nach Einbruch der Dunkelheit auftauchen. Aber er könnte immer noch behaupten, er sei eingeschlafen und ganz durcheinander aufgewacht, in der Meinung, er habe seine Station verschlafen, was gar nicht stimmte. Sei völlig verwirrt abgesprungen und musste dann laufen.
    Man hätte ihm geglaubt. Von so weit fort nach Hause kommen, aus dem Krieg, das konnte einen durcheinanderbringen. Es ist noch nicht zu spät, er würde vor Mitternacht dort sein, wo er sein soll.
    Aber während er das denkt, läuft er in die entgegengesetzte Richtung.
    Er weiß nur von wenigen Bäumen, wie sie heißen. Ahornbäume, die kennt jeder. Fichten. Viel mehr nicht. Als er vom Zug sprang, dachte er, das wäre in einem Wald. War es aber nicht. Die Bäume stehen nur entlang der Gleise, dicht an dicht auf der Böschung, aber dahinter kann er Felder aufleuchten sehen. Grüne oder rostbraune oder gelbe Felder. Viehweiden, Mais, Stoppelfelder. So viel weiß er. Es ist immer noch August.
    Und sobald das Geräusch des Zuges verstummt ist, merkt er, dass ihn, anders als erwartet, nicht vollkommene Stille umgibt. Viele kleine Störungen, hier und da, ein Rascheln des trockenen Augustlaubs, das nicht vom Wind kommt, der Lärm unsichtbarer Vögel, die ihn beschimpfen.
    Vom Zug abspringen sollte eine Verweigerung sein. Man straffte seinen Körper und ging in die Knie, um in einen anderen Luftraum einzudringen. Man war gespannt auf die Leere. Und was bekam man dann? Eine unerhört vielfältige neue Umgebung, die einem so viel Aufmerksamkeit abverlangte, wie sie es nie tat, wenn man im Zug saß

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