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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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bestimmt wissen, wer ich bin.« Sie nannte einen Namen, der Corrie nichts sagte. Dann schüttelte sie den Kopf und lächelte bedauernd.
    »Lillian hat für uns gearbeitet, seit sie nach Kitchener kam«, sagte sie. »Die Kinder haben sie geliebt. Dann die Enkelkinder. Die haben sie sehr geliebt. Du meine Güte. An ihrem freien Tag war ich ein nur höchst unbefriedigender Ersatz für Lillian. Wir alle haben sie geliebt.«
    Sie sagte das auf eine Art, die verwundert, aber voller Anerkennung war. Auf eine Art, die solche Frauen an den Tag legen konnten, voll charmanter Selbstkritik. Sie hätte Corrie sofort als die einzige Person im Raum erkannt, die ihre Sprache sprach und ihre Worte nicht für bare Münze nahm.
    Corrie sagte: »Ich wusste gar nicht, dass sie krank war.«
    »Das ging ganz schnell bei ihr«, sagte die Frau mit der Teekanne und bot der Dame mit den Perlen davon an, die dankend ablehnte. »Wie lange war sie im Krankenhaus?«, fragte sie in leicht drohendem Ton die Perlen.
    »Ich muss überlegen. Zehn Tage?«
    »Weniger, hab ich gehört. Und noch weniger, nachdem dann endlich ihre Familie verständigt worden ist.«
    »Sie war sehr verschwiegen.« Dies von der Arbeitgeberin, die leise sprach, sich aber behauptete. »Sie war absolut kein Mensch, der viel Aufhebens von sich machte.«
    »Nein, war sie nicht«, sagte Corrie.
    In diesem Augenblick trat eine füllige, lächelnde junge Frau dazu und stellte sich als die Pfarrerin vor.
    »Wir sprechen von Lillian?«, fragte sie. Sie schüttelte verwundert den Kopf. »Lillian war gesegnet. Lillian war ein außergewöhnlicher Mensch.«
    Alle stimmten zu. Auch Corrie.
     
     
    »Ich habe Madame Pfarrerin im Verdacht«, schrieb Corrie an Howard, in dem langen Brief, den sie auf dem Heimweg im Kopf entwarf.
    Später am Abend setzte sie sich hin und fing mit der Niederschrift an, obwohl sie den Brief noch nicht abschicken durfte – Howard verbrachte zwei Wochen mit seiner Familie im Ferienhaus am Muskoka-See. Alle etwas missvergnügt, wie er es im Vorhinein beschrieben hatte – seine Frau ohne ihre Politik, er ohne sein Klavier –, aber nicht bereit, auf das Ritual zu verzichten.
    »Natürlich ist der Gedanke absurd, dass Lillians unrecht Gut in den Bau einer Kirche geflossen ist«, schrieb sie. »Aber ich wette, sie hat den Turm bezahlt. Jedenfalls ist es ein lächerlicher Turm. Ich hätte nie gedacht, wie verräterisch diese umgekehrten Eiscremetüten-Türme sind. Der Verlust des Glaubens steht einem doch vor Augen, oder? Sie wissen es nicht, aber sie verkünden es.«
    Sie zerknüllte den Brief und fing von vorn an, triumphierender.
    »Die Tage der Erpressung sind vorüber. Der Ruf des Kuckucks hallt durchs Land.«
    Sie hatte sich nie eingestanden, wie sehr sie das belastete, schrieb sie, aber jetzt war es ihr klar. Nicht das Geld – wie er sehr wohl wusste, lag ihr nichts an dem Geld, außerdem hatte sich der reale Gegenwert des Betrages im Laufe der Jahre verringert, was Lillian offenbar nie erkannt hatte. Es war das ungute Gefühl, die nie endende Unsicherheit, die Bürde auf ihrer langen Liebe, die sie unglücklich gemacht hatten. Dieses Gefühl hatte sie jedes Mal, wenn sie an Postfächern vorbeikam.
    Sie überlegte, ob er die Neuigkeit durch Zufall erfahren konnte, bevor ihr Brief ihn erreichte. Unmöglich. Er hatte noch nicht das Stadium erreicht, in dem man die Todesanzeigen liest.
    Im Februar und dann wieder im August eines jeden Jahres hatte sie die erforderlichen Geldscheine in einen Umschlag getan, und er hatte den Umschlag in die Tasche gesteckt. Später hatte er wahrscheinlich die Geldscheine nachgezählt und Lillians Namen auf den Umschlag getippt, bevor er ihn zu ihrem Postfach brachte.
    Die Frage war, hatte er inzwischen in dem Fach nachgesehen, ob das Geld dieses Sommers abgeholt worden war? Lillian war noch am Leben gewesen, als Corrie das Geld bereitstellte, aber bestimmt nicht mehr in der Lage, das Postfach aufzusuchen. Bestimmt nicht mehr.
    Kurz vor Howards Abreise ins Ferienhaus hatte Corrie ihn zuletzt gesehen, und da hatte auch die Geldübergabe stattgefunden. Sie versuchte auszurechnen, wann genau das gewesen sein musste, ob er Zeit gehabt hätte, das Postfach nach der Hinterlegung des Geldes zu überprüfen, oder ob er gleich zum Ferienhaus aufgebrochen war. Manchmal fand er während seines Aufenthalts dort Zeit, Corrie einen Brief zu schreiben. Aber diesmal nicht.
     
     
    Sie geht zu Bett, obwohl der Brief an ihn noch nicht beendet

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