Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
Beileid auszusprechen.
»Na ja. Es war abzusehen. Bloß gut, dass es nicht im Winter passiert ist.«
Sie tat ihm von dem Haferbrei auf und goss ihm Tee ein.
»Nicht zu stark? Der Tee?«
Mit dem Mund voll Brei schüttelte er den Kopf.
»Ich spare nie am Tee. Wenn man daran sparen will, warum nicht gleich heißes Wasser trinken? Aber wir hatten wirklich keinen mehr, als letzten Winter das Wetter so schlimm wurde. Das Wasser ging nicht mehr, und das Radio ging nicht mehr, und der Tee war alle. Ich hatte ein Seil an die Hintertür gebunden, an dem ich mich festhalten konnte, wenn ich zum Melken rausging. Ich wollte Margaret Rose in die Waschküche bringen, aber ich dachte mir, der Sturm wird sie zu sehr aufregen, und dann kann ich sie nicht mehr halten. Jedenfalls hat sie überlebt. Wir haben alle überlebt.«
Als er eine Lücke in ihrem Gesprächsfluss fand, fragte er, ob es hier in der Gegend irgendwelche Zwerge gab.
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Auf einem Karren?«
»Ah. Haben sie gesungen? Das müssen die kleinen Mennonitenjungen gewesen sein. Die fahren mit ihrem Karren zur Kirche, und sie singen den ganzen Weg über. Die Mädchen müssen in der Kutsche mit den Eltern sitzen, aber sie lassen die Jungen im Karren fahren.«
»Die taten, als würden sie mich gar nicht sehen.«
»So sind die. Ich hab immer zu Mutter gesagt, dass wir an der richtigen Straße wohnen, weil wir genau wie die Mennoniten sind. Das Pferd und die Kutsche, und wir trinken unsere Milch, ohne sie keimfrei gemacht zu haben. Das Einzige ist, wir können beide nicht singen.
Als Mutter starb, haben sie so viel vorbeigebracht, dass ich wochenlang zu essen hatte. Sie müssen gedacht haben, es gibt einen Leichenschmaus oder so was. Ich habe Glück, dass sie da sind. Aber dann sage ich mir, sie haben auch Glück. Denn sie sollen Gutes tun, und hier bin ich, praktisch auf ihrer Türschwelle und die beste Gelegenheit, Gutes zu tun.«
Er bot ihr Bezahlung an, als er fertig war, aber sie winkte ab.
Es gebe aber etwas, sagte sie. Wenn er, bevor er ging, den Pferdetrog reparieren könnte.
Wie sich herausstellte, lief das darauf hinaus, einen neuen Pferdetrog zu zimmern, und so musste er alles durchstöbern, um Material und Werkzeuge dafür zu finden. Er brauchte den ganzen Tag, und zum Abendbrot setzte sie ihm Pfannkuchen mit Ahornsirup von den Mennoniten vor. Sie sagte, wenn er nur eine Woche später gekommen wäre, hätte es frische Marmelade gegeben. Sie pflückte nämlich die wilden Beeren, die entlang der Bahngleise wuchsen.
Sie saßen auf Küchenstühlen draußen vor der Hintertür bis nach dem Sonnenuntergang. Sie erzählte ihm davon, wie sie hierhergelangt war, und er hörte nur mit halbem Ohr zu, weil er sich umschaute und dachte, dass der Hof auf dem letzten Loch pfiff, aber nicht völlig hoffnungslos war, wenn jemand Lust hatte, sich hier niederzulassen und alles in Ordnung zu bringen. Man musste einiges Geld hineinstecken, aber noch mehr Zeit und Energie. Es konnte eine Herausforderung sein. Fast bedauerte er, dass er weiterzog.
Ein weiterer Grund, warum er nur halb auf das hörte, was Belle – sie hieß Belle – ihm erzählte, war, dass er sich ihr Leben, so, wie sie es beschrieb, nicht gut vorstellen konnte.
Ihr Vater – sie nannte ihn ihren Daddy – hatte diesen Hof eigentlich nur für Sommeraufenthalte gekauft, aber dann beschlossen, mit der Familie das ganze Jahr über hier zu wohnen. Er konnte überall arbeiten, weil er sein Geld damit verdiente, eine Kolumne für die Zeitung
Toronto Evening Telegram
zu schreiben. Der Briefträger nahm seine Artikel mit und tat sie zu der Post, die der Zug beförderte. Er schrieb über alles Mögliche. Er brachte sogar Belle darin unter, als »Kätzchen«. Und gelegentlich auch Belles Mutter, die er aber Prinzessin Casamassima nannte, nach einem Buch, sagte sie, dessen Titel heute niemandem mehr etwas bedeutete. Ihre Mutter konnte der Grund dafür gewesen sein, warum sie das ganze Jahr über blieben. Sie war an der schrecklichen Grippe von 1918 erkrankt, an der so viele Menschen gestorben waren, und als sie die überstanden hatte, war sie sonderbar. Nicht wirklich stumm, denn sie konnte einige Wörter sagen, aber viele waren ihr abhandengekommen. Oder sie denen. Sie musste ganz von vorne lernen, wie man isst oder auf die Toilette geht. Außer den Wörtern musste sie lernen, ihre Kleidung anzubehalten, wenn es heiß war. Denn man wollte ja nicht, dass sie in der Stadt auf den Straßen
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