LIEBES LEBEN
schließlich raus.
»Warum läuft er mir nach?«
»Wahrscheinlich findet er dich hübsch, Arin«, erwidere ich. Oh, wenn ich doch noch einmal vierundzwanzig sein könnte und jemand anders das zu mir sagen müsste. Seufz. Und noch mal seufz.
Arin tupft sich die Jeans mit einem Papierhandtuch ab, und mir fällt im Spiegel auf, wie unterschiedlich wir gebaut sind. Ich könnte schwören, dass Arin zweimal in meine Jeans passen würde, und meine Wertschätzung von Arins natürlicher Lebensfreude ist ernsthaft gefährdet. Ich fühle mich plötzlich überdimensional. Unsichtbar und übergroß zugleich.
»Ashley, warum kommst du nicht einfach mit mir nach Costa Rica?«, fragt sie, während sie den Kopf immer noch gesenkt hält und mit ihrer Hose zugange ist.
Mein Gelächter hallt in dem in kräftigen Farben gefliesten Raum wider. Ich lasse mich gegen die mit Kreisen gemusterte Wand fallen. »Zum Einen habe ich hier einen Job.«
»Na und? Der ist auch noch da, wenn du wiederkommst. Es gibt auch noch so etwas wie Urlaub, oder? Sag jetzt nicht, dass du so bist wie die anderen Spinner und auch nie Urlaub nimmst.«
Ich bin so wie die anderen Spinner. Aber es gibt gute Gründe dafür. Wir hätten gerne was zu essen auf dem Teller und müssen unsere überzogenen Mieten in Palo Alto bezahlen, in der Hoffnung, dass wir all dem eines Tages entfliehen und vorzeitig in Rente gehen können. Also horten wir unser Geld wie Eichhörnchen die Nüsse und wollen nicht einen Cent davon verschwenden, damit wir nicht doch arbeiten müssen, bis wir fünfundsechzig sind.
»Ich bin wie die anderen«, gebe ich zu. Dabei denke ich an den Stapel möglicher Patente, die daheim auf mich warten. Vielleicht bin ich sogar schlimmer.
»Komm schon, Ashley. Komm mit. Es ist doch nur ein Monat.
Du hättest so viel Spaß dabei. Schau doch nur, wie blass du bist. Kommst du jemals aus deinem Büro raus?«
»Es ist Januar.«
»Und wir haben heute zwanzig Grad, und die Sonne scheint. Das perfekte Wetter für eine Fahrt mit offenem Verdeck. Wann hast du bei deinem TT das letzte Mal das Dach aufgemacht?«
»Es dauert so lange, bis es offen und verstaut ist.«
»Wann fängst du endlich an, dein Leben zu leben, meine Liebe?« Sie hat den Wasserfleck aufgegeben. Eigentlich sieht er auf ihrem Bein sogar ganz elegant aus. Sie ist ein Glückskind.
»Ich lebe mein Leben. Ich bin nur etwas älter als du und habe meine Verpflichtungen.« Wie zum Beispiel nach Belieben Fleckenmittel für Buntwäsche zu benutzen. Du weißt wahrscheinlich nicht mal, dass es so etwas gibt. »Ich bin nicht gerade mit dem College fertig und auch nicht zwischen zwei Arbeitsstellen. Ich stehe mitten im Berufsleben. Außerdem klingt Costa Rica nicht im Entferntesten interessant für mich. Ich bin kein Affe oder Urwaldmensch. Meine Vorstellung von Urlaub ist eher ein Wochenende in einem Wellnesshotel. Hast du nicht eine Mitbewohnerin oder irgendjemand, der gerne mitkommen würde?«
»Nein, die gehen alle woanders hin. Was hast du nach dem College gemacht?«, fragt Arin hartnäckig. Na gut, ihre Lebhaftigkeit geht mir langsam auf die Nerven. Sie ist so süß und voller Energie, wie ein kleines Kätzchen. Aber wenn es zum zehnten Mal deine Schnürsenkel aufgemacht hat, ist es nicht mehr niedlich.
»Nach dem College habe ich Jura studiert«, antworte ich achselzuckend und bin mir nicht sicher, wo diese Unterhaltung hinführen soll. Aber immer noch um Welten besser, als über Seth zu sprechen.
»Und was hast du gemacht, bevor du Jura studiert hast?« Arins blaugraue Augen schauen mich erwartungsvoll an.
»Da habe ich im Sommersemester ein paar Kurse belegt, um sie schon mal erledigt zu haben.«
Sie stöhnt. »Wusstest du nicht, dass du dir wenigstens den Sommer hättest freinehmen müssen, um irgendwas Ausgefallenes und Verrücktes zu machen? Bevor Verpflichtungen nachzukommen dein Hauptziel im Leben war. Versprich mir, dass du etwas Schönes unternimmst, während ich weg bin. Auch wenn du nur an einem Samstagnachmittag mit deinem TT offen an den Strand fährst. Versprich es. Ich mache mir Sorgen um dich, Ashley. Du bist nicht wie die anderen, aber du verhältst dich wie sie.«
Komisch, dass etwas so Banales wie an den Strand zu fahren für mich schon vollkommen indiskutabel klingt. Seit wann bin ich so durchgeplant? Habe ich eine Zwangsneurose? Nein eine Zwangsneurose wäre, wenn ich übermäßig ordentlich wäre. Ich bin einfach nur langweilig und ein bisschen krankhaft
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