LIEBES LEBEN
auch niemals tragen wird. Ich atme tief durch, verdränge die negativen Gedanken und gehe die Rolltreppe hinauf. Den roten BH kann ich tragen, wann ich will!
»Was treibt der Trupp heute?«, fragt Brea.
»Sie sind zu Chevys gegangen«, antworte ich. »Immer das Gleiche. Mexikanisches Essen. Arriba !«
»Bist du mitgegangen?«
»Ich bin nicht geblieben«, antworte ich achselzuckend. »Diese Gruppe bewegt sich nirgends hin, und ich bin schon dort. Ich werde meinen Mitgliedsausweis abgeben. Ich muss meine Zeit besser nutzen.«
»Du bist nur sauer wegen Seth. Da kommst du drüber weg. Und was willst du dann machen? Noch mehr arbeiten?«
»Über ihn bin ich weg.« Ich erzähle Brea von Seths jämmerlichen Versuchen, sich vor meinen Augen an Arin ranzumachen. Aber wenn ich die Geschichte erzähle, habe ich immer noch einen dicken Kloß im Hals. Also bin ich doch nicht so drüber weg, wie ich es gerne hätte. Die Neuigkeiten von der Hochzeit meines Bruders hebe ich mir für später auf. Mein Leben kann man nur in einzelnen Häppchen verdauen.
Brea atmet tief durch. »Es tut mir leid, Ash, aber du hattest deine Chance bei Seth schon vor Jahren, und du hast sie nie genutzt.«
»Was?« Ich lache. »Wann hatte ich meine Chance bei Seth?«
»Er ist dir nachgelaufen, wie er es jetzt mit Arin macht, aber du hast es nie bemerkt. Du warst so mit Patenten und Reisen nach Taiwan beschäftigt, dass du ihn nicht bemerkt hast. Erst als er Arin bemerkt hat.«
»Deine Hochzeit hat deine Erinnerung getrübt. Zwischen Seth und mir war nie etwas.«
»Seth war dein Partner bei der Kanutour, ihr habt das Sackhüpfen zusammen gewonnen, habt euch aneinandergekuschelt, um euch bei der Fahrt auf dem Heuwagen warm zu halten ... und so weiter. Erzähl mir nicht, dass zwischen euch beiden nichts lief. Du behauptest immer, dass er es nicht rafft ... ich bitte dich!«
»Wir waren gute Freunde«, erwidere ich mit erhobenen Händen. »Außerdem hat es nichts mit Seth zu tun, dass ich aus der Single-Gruppe gehe. Er war nur der letzte Anstoß dazu. Ich trete schon seit drei Jahren auf der Stelle. Nichts verändert sich. Nichts tut sich. Wie soll ich denn in dieser Welt etwas bewegen, wenn ich mich nicht bewege? Ich will meinen Horizont erweitern, und der erste Schritt dazu ist dieser rote BH.« Ich nehme einen sinnlich roten Büstenhalter in die Hand. Er hat ein tiefes Dekolleté mit Spitzen an den Rändern. »Den probiere ich jetzt an.«
Brea zieht die Augenbrauen hoch, sagt aber nichts.
In der Umkleidekabine ziehe ich mich aus und probiere, ob der Designer-BH passt. Das Problem ist: Der Spiegel zeigt mich ganz. Wenn es nur ein halber Spiegel wäre, in dem ich nur meinen Busen und das Dekolleté sehen könnte, wäre alles in Ordnung. Aber ich sehe etwas anderes. Diese Umkleidekabine hat an drei Seiten Spiegel. Ich sehe also nicht nur meinen vollbusigen Oberkörper, sondern auch meinen kleinen Rettungsring, der über meine Großmutter-Unterhosen hängt, und die extra Pölsterchen an der Seite, unter dem BH. Unter all diesen zierlichen Asiatinnen wirkt meine Figur wie ein Ungeheuer aus dem Amazonas-Dschungel, und dieser Spiegel sieht das auch so.
Vielleicht bin ich ja voreingenommen, aber ich hatte etwas mehr Model-Figur erwartet. Aber mein wahrer Frauenkörper sieht aus wie das Männchen aus der Michelin-Werbung, nicht wie aus der Unterwäsche-Werbung. Ich fange an zu hyperventilieren. Wenn ich hier fertig bin, werde ich ganz sicher zum Strand fahren und ein langes Gespräch mit Gott führen.
Ich ziehe mich wieder an und knalle die Tür der Umkleide hinter mir zu. »Das ist einfach deprimierend«, sage ich zu Brea, aber die hat ein Grinsen im Gesicht wie der Gran Canyon.
Sie steht schon an der Kasse und kauft ein schwarzes, durchsichtiges Mieder zum Schnüren. Ups. Ich drehe mich um und werde so rot wie der BH gerade. Sich seine beste Freundin in Unterwäsche vorzustellen ist genauso, wie sich seine Mutter in Unterwäsche vorzustellen. Das tut man einfach nicht.
Ich greife nach einem anderen Teil, um die Demonstration, die ich gerade erlebt habe, zu vergessen. Dieser hier ist violett und hat kleine Push-up-Polster. Vielleicht hilft das gegen die Speckfalten ...
Deshalb gehen Frauen einkaufen. Wir hoffen immer, dass wir in die Umkleidekabine gehen und etwas gefunden haben, mit dem wir im Spiegel so aussehen, wie wir es uns erträumt haben. In diesem teuflischen dreiseitigen Spiegel.
Als ich den lilafarbenen BH anprobiere, konzentriere ich
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