LIEBES LEBEN
ordnungsbedürftig. »Du kennst mich doch gar nicht richtig«, mache ich noch einen zaghaften Versuch. Doch, das tut sie. Irgendwie hat die Kleine mich festgenagelt.
Sie beachtet meinen Einwand gar nicht. »Ich will, dass du mir versprichst, irgendwas Verrücktes zu machen. Etwas, das dein Leben infrage stellt und dich aus deiner Routine reißt, so wie gestern Abend bei Starbucks.«
Ich hole tief Luft und antworte: »Ich verspreche es.« Den Weichspüler zu wechseln ist doch verrückt. Oder meine Lieblings-Realityshownicht aufzunehmen oder die Werbung dazwischen anzuschauen - das wäre doch wirklich exzentrisch.
»Jetzt komm, stell mich Seth vor. Er ist irgendwie süß. Hast du seine Augen gesehen?«
»Ich habe seine Augen gesehen.«
Arin will die Tür aufmachen, und ich halte sie zurück.
»Seth ist ziemlich empfindlich. Ich will nicht, dass er sich falsche Hoffnungen macht, wenn aus euch beiden nichts wird.«
»Hör mal, ich habe einen Freund!«, ruft Arin empört.
»Einen Freund, mit dem du gerne Schluss machen würdest. Außerdem macht dich das nur interessanter. Es ist eine Herausforderung, und Männer mögen Herausforderungen. Sogar Ingenieure. Besonders Ingenieure.«
Sie schluckt und nickt. »Okay, ich habe verstanden.« Sie geht hinaus und wirft ihre blonden Haare hin und her, bis sie auf ihrem Platz sitzt.
Wie erklärt man jemandem, für den Flirten so eine Art Muttersprache ist, dass sie mit dem Feuer spielt? Sie hat keine Ahnung, welche Kraft von ihren zierlichen, schwingenden Hüften ausgeht. Mir fällt ein wunderbares Zitat ein, das ich einmal gehört habe:
»Die Männer täuschen Liebe vor, weil sie Sex wollen, und die Frauen täuschen Sex vor, weil sie Liebe wollen.« Und ich täusche gar nichts vor. Ich arbeite nur wie eine Drohne. Aber das wird sich bald ändern. Es muss sich etwas ändern, oder ich werde sterben vor Langeweile. Arin mag jung und naiv sein, aber was mich angeht, hat sie recht. Ich muss aus dieser Routine ausbrechen, sonst bleibe ich für immer darin stecken.
Als wir zum Tisch zurückkommen, stehen alle Männer auf. Ich kann es nicht fassen. Die Kerle haben doch noch etwas von einem Kavalier in sich stecken! Sie denken nur, dass ich es nicht wert bin. Als die Männer stehen, sehe ich, dass Tim Hansons Haarbüschel etwas fülliger werden, und das ist ein Hoffnungsschimmer. Tim hat auf seinem Kopf Haare wachsen lassen, während ich - ja, was habe ich eigentlich getan? Ich habe nur über mein bedauernswertes Leben gejammert. Das war’s.
Ich bin Ashley Wilkes Stockingdale! Man überlebt die Schule nicht mit so einem Namen, wenn man nicht zu Höherem berufen ist. Es wird Zeit, dass ich herausfinde, was das ist. Ich mache mir gar nicht erst die Mühe, mich wieder zu setzen. Mit diesem Leben ist es jetzt aus. Ein Leben, das zu nichts führt, mit einer Gruppe von Menschen, die zu lethargisch sind, um auf den Knopf zu drücken und aus dem Bus zu steigen. Aber ich habe eine Bestimmung! Zugegeben, ich weiß zwar noch nicht, welche, aber ich werde sie erfüllen.
Ich nehme die Schultern zurück. Ich habe einen Busen, denke ich. Das kann man mit Größe sechsunddreißig, wie Arin, nicht haben - zumindest nicht, ohne dafür viel Geld zu bezahlen. Ich bin eine Frau, hört mich nur! Vielleicht werde ich mir heute einen sexy BH kaufen.
»Entschuldigt, aber ich muss noch etwas erledigen. Ich verabschiede mich besser für heute.« Ich lächle, als hätte ich ein großes Geheimnis. Heute werde ich etwas Ausgefallenes tun.
Seths Gesicht verzieht sich wie ein weicher Donut. »Du gehst?« Seine Stimme bricht. Er, der Inbegriff von Gelassenheit. Jetzt nicht mehr.
Seltsamerweise verzieht auch Arin das Gesicht. Ihr wird soeben klar, dass sie jetzt diese ganze Meute von Ingenieuren im mittleren Alter allein abwimmeln darf, ohne sich dabei auf meine jahrelange Erfahrung oder natürliche Begabung stützen zu können. Ich habe meinen Auftritt gehabt, und meine immer für selbstverständlich genommene Gegenwart wird vermisst werden. Welch ein Gefühl!
»Bis nächste Woche dann«, sage ich ganz im Stil der Glücksradfee Vanna White und gehe Richtung Tür. Hinter mir höre ich das Gemurmel und die Spekulationen darüber, was wohl aufregender sein könnte, als mit diesem Fiesta-Trupp zusammen beim Mexikaner essen zu gehen. Ich kann ihre Blicke auf mir spüren. Für diesen einen kurzen Moment bin ich die süße Ashley.
Ich habe die Aufmerksamkeit jedes Einzelnen. Und diesmal stolpere ich nicht.
Als
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