Liebesbrand
Regalbretter nicht herankam, stellte ich
die Leiter auf und stieg hoch und stand auf dem obersten Trittbrett und überflog die Titel der Bücher, nichts, Fehlanzeige,
hörst |64| du mir überhaupt zu? sagte sie, wieso atmest du so heftig?
Ich bin auf eine Leiter gestiegen, sagte ich, und sehe mir die Stockflecken an der Decke an, ich glaube, ich muß mir einen
Tapetenablösebügel besorgen, und dann werde ich die Tapete mit einem Spachtel abkratzen, doch sie unterbrach mich und erzählte,
daß ihr Nazivater nie etwas von mir gehalten hätte, er wäre von Anfang an gegen die Verbindung gewesen. Komisch, dachte ich,
das stimmt doch alles nicht, ihr Vater ist alles andere als ein Nazi, er hat nur keine Lust, alle zwei Jahre dem neuen Freund
seiner Tochter die Willkommenshand hinzustrecken. Ich erinnerte mich an das Gespräch zwischen Mann und Mann, es war mein zweiter
Besuch bei ihren Eltern in Süddeutschland gewesen, und sie wollte ihnen auseinandersetzen, daß ihre Liebe zu mir eine ernstzunehmende
Sache war, sie ging wieder einmal mit ihrer Mutter in der Stadt einkaufen, und ich saß dem Hausherrn gegenüber: Er schenkte
mir Schlehenlikör ein. Er war nett. Er war kein Nazi, nicht einmal konservativ, er trug aus politischen Gründen keine Pantoffeln.
Bist du noch dran? sagte sie, und ich stellte erst die Leiter vor das letzte Regal und sagte dann: Ich bin ganz Ohr. NI wie
was? Woher kommt sie? Endlich fand ich das Lexikon der Autokennzeichen, schlug unter dem Buchstaben N nach, und da: NI wie
Nienburg – sie kommt aus Nienburg, wo, in Gottes Namen, ist Nienburg?
Haßt du mich? sagte sie, ich stand neben der Leiter, starrte auf die aufgeschlagene Seite, dann setzte ich mich auf die unterste
Trittstufe und nahm den Hörer in die Hand, danke für die Zeit, die du mir geschenkt hast, sagte ich und kam mir kein bißchen
wie ein Friedensstifter vor. Für einige Sekunden hörte ich nur ein Rauschen in der Leitung, dann ein schabendes Geräusch,
richtig, |65| wenn sie verlegen war, kratzte sie mit dem Fingernagel über die Sprechmuschel, sie schwieg gerne, aber die Stille ertrug sie
schlecht.
Du wirst also den Kontakt nicht kappen? sagte sie.
Wenn wir uns auf der Straße zufällig begegnen, werde ich nicht so tun, als kennte ich dich nicht. Es sei denn …
Ja, was? hakte sie nach.
Es sei denn, dein neuer Fremd steht neben dir.
Natürlich, flüsterte sie und legte auf.
Ich war in der Stimmung, an diesem Herbst- oder meinetwegen Winterabend eine Arbeit anzugehen, draußen pfiff der Wind eine
Gespenstersonate, ich zog die eingerollte Bodenmatratze zur Seite und hängte die blauen Steine gegen den bösen Blick ab, im
Laufe der Jahre hatte ich sie gekauft und gesammelt und dann angefangen, sie an die Wand am Kopfende des Bettes zu hängen.
Es war nicht schön, von über zweihundert blaugefaßten Augen angestarrt zu werden, ich zweifelte daran, daß sie irgendeinen
Schaden abwenden konnten. Ich füllte zwei Plastikwannen mit den Steinen, zog die Nägel aus der Wand, sie ließen sich leicht
entfernen. Dann trug ich auf all die kleinen Löcher Füllmasse aus der Tube auf und fuhr mit dem Spachtel darüber. Wie jeder
schlechte Heimwerker hatte ich Sonderangebote aus dem Hobbymarkt gehortet. Was tat ich, was hatte es für einen Sinn, um halb
drei Uhr morgens Löcher zu verspachteln? Ich war frei, ich war mir selber überlassen, und ich kam mir klein vor, ich war kleingemacht
worden, und da ich mich über meinen Anfall von Selbstmitleid ärgerte, schlug ich mit der Faust gegen die Wand, immer wieder,
bis die Nachbarin über mir zurückklopfte, wenn ich nicht aufhörte, würde sie ihren Freund vorbeischicken, kein mächtiger Gegner,
nur ein Mann, der Drohungen ausstieß, die ich nicht ernst nahm. Er hatte |66| mir gedroht, er würde mir die Ohren abreißen, wenn ich weiterhin Altglas in den Container für den herkömmlichen Müll warf.
Er hatte mich aufgefordert, meinen Abschnitt des Treppenhauses, zwei halbe Treppen, zu putzen und zu bohnern, sonst würde
er mir ein Büschel Haare ausreißen. Bislang hatte er keine seiner Drohungen wahr gemacht, aber man konnte nie wissen. Ich
bin zurück, dachte ich, und ich fühle nichts. Sie kommt also aus Nienburg, wo, in Gottes Namen, ist Nienburg? Ich blätterte
in einem Deutschlandatlas, dann griff ich zum Kartenset Deutschland, faltete den Pocketatlas für den deutschen Norden auseinander
und fand endlich, nach langem
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