Liebesbrand
Spottlied. Sie aber trat vor die Tür, und den Männern verging
das Singen, sie hatten das Verlangen, ihre Nähe aufzusuchen, ihr neues, wie von Katzenkrallen zerkratztes Gesicht zu berühren.
Ihre Schönheit fiel aber auch den Frauen auf, sie fragten ihre Ehemänner nachts im Schlafzimmer aus, und früher oder später
stellten sie die entscheidende Frage: Bist du von dem Schmuckweib verzaubert? Die Männer, müde von der harten Tagesarbeit,
gaben |69| sich unbeeindruckt, sie schrien die Frauen an, denn sie hatten sie ja damit beeindruckt, den Schmuck abzuholen. Die Verwandelte
konnte ab diesem Tage keine Armreife, Ohrringe oder Halsketten verkaufen, und da erschien wieder ihr Mann oder die Seele ihres
Mannes im Traum und sprach, sie sollte jeden Morgen mit dem Kamm, den er ihr geschenkt hatte, durch das Haar fahren, und es
würden Goldmünzen herauspurzeln. Sie tat wie ihr geraten, und tatsächlich fielen ihr Goldmünzen vor die Füße, und mit dem
Gold bestach sie die Bäuerinnen, die Mägde und alle Frauen in niederen Berufen, und sie bestach auch ihre Verlobten und Geliebten.
Irgendwann saß sie in einer Kutsche und fuhr übers Land, und als sie den Kopf hinausstreckte, stürzte der Himmel ein, das
Oberste wurde zuunterst gekehrt, und ein drittes und letztes Mal erschien die Seele und strich über das zerschmetterte Gesicht
der Verwandelten, und …
Ich setzte mich mit einem Ruck auf und sank wieder aufs Kissen zurück, die Decke kam mir entgegen, und im nächsten Moment
fiel ich aus dem Bett und landete auf der Seite, ausgerechnet auf meinen geprellten Rippen. Ich versuchte aufzustehen, ich
zog mich an der Bettkante ganz langsam hoch, und fast wäre ich wieder zu Boden gegangen. Mein Kopf zersprang vor Schmerzen,
ich hatte hohes Fieber. Die Bettdecke lag zerknüllt in einer Ecke, ich tastete mich langsam vor, stützte mich auf die Stühle
und den Tisch im Flur, und dann fiel mein Blick auf die Küchenuhr, es war später Vormittag, nein, es war Mittag, ich hatte
zehn Stunden durchgeschlafen. Ich trank zwei Gläser Wasser und schaute mich benommen um. Ich hatte das Märchen geträumt, das
mir meine Freundin, meine ehemalige Freundin, am Anfang unserer Liebe erzählt hatte, und je mehr ich darüber nachdachte, je
mehr ich versuchte, mich an Einzelheiten |70| zu erinnern, desto lächerlicher kam mir meine eigene Geschichte vor, dem Tode entronnen und dem Märchen anheimgegeben, die
Geschichte eines altmodischen Mannes, der bei einem Unfall nicht umkommt, weil es nicht vorgesehen ist; der seine Frau verliert,
aus besseren Gründen, die ihm nicht einsichtig sind. Ich zog mich langsam an, jede schnelle Bewegung verursachte Schmerzen
und Übelkeit, ich hatte keine Eile, ich konnte mir Zeit lassen. Mist und Jauche, dachte ich, als ich die Treppen hinunterging,
und ich setzte mich vor der Bäckerei auf den freien Stuhl, vielleicht würden Freunde zufällig vorbeilaufen, vielleicht würden
sie mich in Gespräche über ausgeraubte Tankstellen oder Wetterkatastrophen verwickeln.
Eine Weile starrte ich auf die Kreuzung, immer wieder legte sich ein Märchentraumbild auf die Alltagsszenen, dort gegenüber
Menschen an der Bushaltestelle, hier im Schaufenster der Bäckerei welke Ahornblätter im Dessertglas, das die jüngste Auszubildende
zwischen die Angebotsschilder gestellt hatte. Die Gesichter. Die Gesichter der Frauen, die an der Linde haltmachten, sie stellten
die schweren Einkaufstüten ab, holten tief Luft, blickten auf mich, der ich starrte, glaubten, ich könnte ihnen gefährlich
werden, und wurden feindselig. Es kümmerte mich nicht. Eine Bekannte lächelte im Vorbeigehen vielsagend, sie und meine Freundin,
meine Ex-Freundin, kannten sich, und vielleicht hatte sie von der Trennung Wind bekommen, vielleicht dachte sie, ich wollte
sie nur deshalb freundlich herbeiwinken und auf einen Kaffee einladen, weil ich dringenden Ersatz suchte. Ihr Gesicht. Die
Gesichter. Der kalte Wind fuhr in die Baumkrone der Linde und in meine Kleider, ich blieb sitzen, zu Hause erwartete mich
nur eine kalte Wohnung in Unordnung. Mein bester Freund hatte |71| sich für Wochen abgesetzt, so schrieb er in einer knappen Mitteilung, er werde weit weg eine strenge Diät einhalten, ein bißchen
melancholisch werden, es wäre nutzlos, ihn über das Mobiltelefon erreichen zu wollen, er hätte es zu Hause gelassen. Ich kannte
fast nur seltsame Menschen.
In dem Moment, da mir mein
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