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Liebesbrand

Liebesbrand

Titel: Liebesbrand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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unser Kafka, der ihr Kafka geworden
     ist, die großen versoffenen Dichter in ihren Gräbern, die modernen nüchternen Dichter in ihren Wohnungen, das Verkehrte, das
     Verkaufte, das Blöde und das Gescheite, den Fluß … wenn sie anfängt, all das zu hassen, was die Stadt ist, von der loszukommen
     ich eine kleine Lüge nenne, und eine kleine Lüge wird, oh meine dumme dumme Tochter, im Ausland zu einer großen Lüge, zu einem
     Krebs, der dich zerfrißt.
    Kaum hatte sie den letzten Satz gesprochen, ging der |215| Applaus los, sie hatte das Original gestrichen und ihre eigene Fassung dargeboten, alle Tschechen streckten die Arme und klatschen
     hoch über ihren Köpfen, und wir Fremden, die wir ihrem Liebesgesang gelauscht hatten, riefen bravo, Jarmila verbeugte sich
     und richtete sich auf, verbeugte sich und warf uns eine Kußhand zu, und dann ging sie die Treppen hoch und verschwand in jenem
     Zimmer, aus dem doch tatsächlich eine junge Frau herauskam, und auch sie verbeugte sich vor dem Publikum und ging wieder zurück
     ins Zimmer.
    Es wäre richtig und schön gewesen, alleine in der Prager Nacht durch die menschenvollen Straßen zu schlendern, ich hätte mich
     an dem Gedanken gefreut, daß die Not überstanden war, eine Not, die mich zwang, flach und heftig zu atmen, und darauf zu vertrauen,
     daß sich meine Bank und mein Steuerberater um alles Halbwichtige kümmerten; es wäre richtig und schön, die typische Touristenmelancholie
     zu fühlen und an den verwitterten Steinfiguren vorbeizugehen und im fahlen Licht der Bogenlampen am Flußufer auf die kleinen
     Wogen zu starren, die verstrichen, bevor sie den Ufersaum erreichten. Doch ich blieb, wo ich war, ich setzte mich auf einen
     morschen Gartenstuhl, fand einen Zahnstocher in meiner Hosentasche, zog die Papierhülle ab und zeichnete in den feuchten Sand
     zwischen meinen Füßen Buchstaben, und als ihr Schatten auf mich fiel, stand ich auf und gab ihr zwei Küsse auf die Wangen,
     sie legte ihren Kopf in meine Nackenbeuge, und ich hielt sie in einer sanften Umarmung. Es verging so viel Zeit, daß ich ihren
     Atemzügen lauschen konnte, obwohl draußen Autos über das Kopfsteinpflaster fuhren, ich zählte bis zehn, ich zählte bis zwanzig,
     und bei der Zahl siebenundachtzig fühlte ich ihren Kuß und dann ihren leichten Biß in meinen Hals, ich ließ den Zahnstocher
     heimlich auf den Boden fallen.
    |216| Geh’ lieber jetzt, sagte sie und trat einen Schritt zurück, du bist nicht mein Spielzeug, und ich mußte den ganzen Weg zum
     Hotel über ihre seltsame Bemerkung nachdenken, nein falsch, genauso wie ich ihre Atemzüge gezählt hatte, wiederholte und zählte
     ich diese fünf Worte, du bist nicht mein Spielzeug, elf, du bist nicht mein Spielzeug, neunundfünfzig,
du
bist nicht mein Spielzeug, zum dreihunderteinundachtzigsten Male, dann, erst dann verloren die Worte ihren Sinn.
    Es dauerte eine weitere Stunde, bis ich endlich durch die Hoteltür eintrat, die Rezeptionistin, die gerade ihren Nachtdienst
     begonnen hatte, übergab mir meinen Zimmerschlüssel und ein kleines Paket, das ein Mann für mich abgegeben hatte. Ich nahm
     es mit auf das Zimmer, riß das Papier auf und hielt ein Zigarillokästchen in Händen, ich klappte den Deckel hoch und starrte
     auf drei Patronenhülsen, die mit durchsichtigem Klebeband fixiert waren, ich faltete den beiliegenden Zettel auseinander,
     es war ein liniertes Blatt Papier, das man aus einem Schulheft herausgerissen hatte, ich starrte auf zwei sorgfältig gemalte
     Zeichen in der Mitte des Zettels, das erste Zeichen sah aus wie ein unvollständiger Kelch, ein dicker Balken, den drei dünne
     Querstriche kreuzten, stützte ein U, das zweite Zeichen ähnelte einem Rad, aus dessen Mitte eine Kurbel seitlich herausragte.
     Ich stürmte hinunter zur Rezeption, ich fragte die Frau nach dem Mann, sie sagte, sie hätte kein fotografisches Gedächtnis
     und könnte mir leider nicht mit einer Personenbeschreibung weiterhelfen, ich rannte wütend hinaus auf die Straße, und kaum
     stand ich auf dem Gehweg, traf mich ein harter Schlag an die Schläfe, ich ging nach dem zweiten Hieb zu Boden, und der Verdammte
     hockte sich auf meinen Bauch und schlug mich, seine Fäuste trafen meinen Kopf und mein Schlüsselbein, in meiner Wut packte
     ich ihn mit beiden Händen an seinem |217| Hinterkopf, ich riß an seiner Haut, er stieß einen seltsam kindlichen Schmerzenslaut aus, er spuckte mir ins Gesicht, richtete
     sich

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