Liebesdienst
ihn ablenken sollte von dem, was passiert war. Im Grunde wartete er selbst auf einen Herzinfarkt, es war also egal, was er machte.
Er war Römer, klein von Wuchs, mit vornehmen Manieren und einem milden, kummervollen Lächeln. Ich hatte ihn immer als sehr vital erlebt, muskulös, kompakt und mit einem leicht sonnengebräunten Teint. Nach dem Tod seiner Frau schien alle Kraft aus seinem Körper gewichen zu sein, er wurde blass.
All das schilderte ich dem Geschäftsführer von Vicoâs, ebenfalls einem alten Freund von mir. Ich hatte die Idee, Ernesto könnte durch die Tätigkeit bei ihm wieder neuen Lebensmut fassen. Er sei nicht auf das Geld angewiesen, sagte ich, er sei schon zufrieden, einfach nur an die Tische zu gehen und hier und da ein Glas San Pellegrino einzuschenken. Ich schlug ihn nicht als Ersatz für Rafaele vor, eher als Aushilfe, der bereit war, ganz unten anzufangen, während alle um ihn herum aufstiegen.
Tatsächlich kam Ernesto über den Posten des Wassereinschenkers nie hinaus, aber er war mir dankbar für den Ortswechsel. Eine Dankbarkeit, die auszunutzen ich keine Skrupel hatte. Als eine Möglichkeit, mir den Gefallen zu erwidern, übertrug ich Ernesto die Jago-Aufgabe, mir zu berichten, was ich mit eigenen Augen nicht sehen konnte.
Ich schonte ihn nicht. Ich traf ihn, wenn er Feierabend im Restaurant machte, bestellte uns ein Taxi zu ihm nach Hause und lieà den Wagen manchmal stundenlang vor seiner Wohnung â aus der die Sachen seiner Frau jetzt weggeräumt waren â in Maida Vale warten, während ich auch noch den letzten Fetzen Information aus ihm herausquetschte. Anfangs lauteten die Antworten auf meine Fragen immer gleich, nein, er habe eigentlich gar nichts gesehen, er habe ihnen nur Wasser eingeschenkt, seine Beobachtungen seien wirklich nichts wert; schlieÃlich aber begriff er, dass seine Ausflüchte mich stärker kränkten als seine vertraulichen Mitteilungen. Es ist gut möglich, dass er einiges erfand. Auch möglich, dass Marisa an manchen Abenden gar nicht im Restaurant war, wenn er sie Händchen haltend mit einem anderen Mann dort gesehen haben wollte. Aber das machte nichts. Es war das Atmosphärische, das in der Anfangszeit für mich zählte. Ein Empfinden dafür, wie sie als Paar wahrgenommen wurden, von einem Mann, der ihnen nahe gewesen war, der sich über sie gebeugt, der ihnen Wasser nachgeschenkt hatte und der daher einen frischen Eindruck von ihnen beiden mit sich herumtrug.
Und wenn Mephisto leibhaftig erschienen wäre und mir angeboten hätte, mich â nicht als unsichtbare Erscheinung, sondern als unerwünschte dritte Person, ein Niemand, vor dem sie sich ohne Gewissensbisse küssen konnten â an ihren Tisch zu platzieren, während sie miteinander knutschten, ich hätte ewige Verdammnis gerne in Kauf genommen. Da mir dieses Geschäft versagt blieb â und weder Marius noch Marisa würden mich aus eigenem Antrieb auffordern, ihr Essen mit ihnen zu teilen â, musste ich Ernesto zu meinem Zeugen machen, zu meinen Augen, meinen Ohren, sogar meinen Lungen.
»Nehmen Sie alles in sich auf«, bat ich ihn einmal. »Atmen Sie alles ein, und dann halten Sie die Luft an, bis Sie sie bei mir wieder ausatmen können.«
»Den ganzen Abend die Luft anhalten?«
»Wenn es sein muss.«
Er lachte sein gezwungenes, blasses Lachen, die italienische Musik darin verklungen. »Dann wird das mein letzter Atemzug sein.«
»Mit etwas Glück auch meiner«, sagte ich.
Ich spürte seinen prüfenden Blick in dem dunklen Taxi. »Ich dachte, das hier würde Ihnen gefallen.«
»Es gefällt mir ja auch. Aber jetzt erzählen Sie mir, was heute Abend war â¦Â«
Ganz gleich, wie mitteilsam er war, jedes Mal musste ich ihm die Bühne bereiten. Zwischen Restaurant und Bett, das versteht selbst der gleichgültigste Mann, gibt es Fragen, die gestellt werden müssen. Doch zwischen Glasaustrinken und Wassereinschenken, zwischen Butteraufstreichen und Brotessen, zwischen der Lektüre der Speisekarte und der Bestellung ereignet sich eine Unmenge dramatischer Details, und auf kein einziges wollten Sie verzichten, wenn Sie an meiner Stelle wären. Ja, Ernesto, aber bevor sie sich vorbeugte, um ihn auf den Mund zu küssen â was haben sie da zueinander gesagt, hat er sie um den Kuss gebeten, oder hat sie ihm den Kuss freiwillig gewährt, war
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