Liebesdienst
sollte sie ihnen das später erklären? Und wie rechtfertigte sie das vor sich selbst? Wie konnte sich eine Frau, zudem auf so öffentliche Weise, so weit entfernen von dem, was das weibliche Feingefühl verlangte?
Einmal, auf einer Dinnerparty meiner Eltern, entblöÃte die Schwägerin meiner Mutter, Agatha, die mit ihrer Ehe, so wurde gemunkelt, noch weit unzufriedener war als meine Mutter, ihre Brüste vor der versammelten Gästeschar und warf einzelnen Personen Beleidigungen an den Kopf, erst ihrem Ehemann, dann einem Onkel von mir, dann meinem Vater und schlieÃlich sogar mir, wie ich glaubte. Wir sollten ihr beweisen, dass wir hätten, was angeblich alle Männer hätten. »Na los«, provozierte sie uns. »Zeigt doch, was ihr draufhabt, jetzt, wo ihr mal nicht bei euren Flittchen seid!« Meine Mutter packte mich rasch und drückte mich an sich, aber erst, als die Männer, in ihre Portweingläser glotzend, anfingen schallend zu lachen. Sie fanden das amüsant, eine Frau, die ihre Brüste entblöÃte. Ich dagegen fand es überhaupt nicht witzig. Ich konnte meiner Tante Agatha danach nie wieder in die Augen schauen, so sehr schämte ich mich für sie und für das, was ich gesehen hatte. Das Animalische ihrer Verzweiflung hatte mich erschreckt. Es war furchtbar, Zeuge geworden zu sein, wie eine Frau sich zu einer solchen Zügellosigkeit hatte hinreiÃen lassen.
Dieses unbehagliche Gefühl, das mich überkam, wenn ich auch nur die geringsten Anzeichen von Promiskuität bei einer Frau entdeckte, verlieà mich nie, auch nicht, als ich in das Alter kam, in dem Jungen anfangen, Frauen zu erobern. Ich gierte nicht nach den Mädchen, denen meine Freunde nachstellten. Als ich zum ersten Mal nach Faith wieder mit einem Mädchen ausging, trennte ich mich sofort von ihr, als sie über schmutzige Witze lachte. Demonstrativen Sex-Appeal konnte ich noch nie ausstehen, so wie ich es nicht ausstehen kann, wenn Frauen, egal welchen Alters, mit nacktem gepierctem Bauchnabel und Tattoos auf den Beinen durch die High Street in Marylebone schlendern. Ein Tattoo wirkt auf mich nicht verführerisch. Eine Frau soll nicht aussehen wie ein Matrose. Worin liegt das Vergnügen, einer Abenteurerin der sieben Meere mit einem Zuhälter in jedem Hafen Leidenschaft abzutrotzen? Der Sex, für den man alles opfern würde, lebt von Ãberraschung und Entrückung. In der Geologie bezeichnet die Verwerfungslinie den Bruch in der Maserung des Gesteins, wo bereits Bewegung stattgefunden hat und wo in Zukunft Probleme auftreten können. Auch bei Frauen finden sich Verwerfungslinien â und selbstverständlich bei Männern, aber ich mache ja keine Studie über Unstetigkeit bei Männern â, die ähnliche Aufregungen versprechen. Nur wo sich bei einer Frau Widersprüche und Ungewissheiten zeigen, regt sich mein Verlangen. Eine Marisa, die sich ihrem Liebhaber an die Brust wirft und »Fick mich, Marius« ruft, wäre nicht weiter von Interesse, wenn sie ein leichtes Mädchen wäre. Erst die Erschütterung ihrer Reserviertheit verschlug mir den Atem.
In dieser Hinsicht hatten Marius und ich vielleicht etwas gemeinsam. War es nicht genau das, was ihn in der Umgebung des Todes an Mädchen so anzog, die seine Töchter hätten sein können â das Unbefleckte an ihnen? Mariusâ Spur war das Brandzeichen, das seine Finger auf unverdorbenes Fleisch drückten, der Bluterguss am Auge, den er auf porzellanzarten Gesichtern vorfand oder hinterlieÃ. Auf mich übte Jugendlichkeit keine Faszination aus, und ich hinterlieà keine Spuren, und dennoch war auch ich so etwas wie ein Schänder. Der Unterschied bestand darin, dass Marius handelte, wohingegen ich nur zuschaute oder Anregungen gab.
Und nun spürte also Lionel die Verwerfungslinie in Dulcies Wesen auf.
Obwohl ich wohl kaum das Recht dazu hatte, war ich bestürzt darüber, was Dulcie mir erzählte. Dulcie wieder in FuÃkettchen! Dulcie und der Elektriker! Dulcie, die »es« getan hatte!
Wieder mal waren sie und Lionel mir mit ihrem Leben unangenehm auf die Pelle gerückt.
Nun waren wir also Kameraden auch in dieser Hinsicht â Lionel, der sich nachts von Dulcie abwandte, ihr das ungeschützte Auge in Auge ersparte, aber nicht weniger hartnäckig den Pflichtbericht einer scharfen Braut aus ihr herauspresst? »Und dann was hat er dann gemacht
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