Liebesdienste / Roman
alle kleinen Einzelteile davon durch eine Mangel gedreht wären, bis sie so platt waren, dass sie niemand mehr zu einem Ganzen zusammensetzen könnte. Im einen Augenblick war er ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft, und ein Ticken der Uhr später, nach einer Umdrehung der Schraube, war er ein Ausgestoßener. Es brauchte nur ganz wenig. Der Schwung, den ein Baseballschläger beschrieb, eine Schale Borschtsch und ein Mädchen, das sich das Kopftuch abnahm.
Ein schönes Mädchen mit blondem Haar wollte sich mit ihm
(Marty)
in der Kaviarbar des Grand Hotel Europe treffen. Er fragte sich, ob sie, weil er Ausländer war, sein zögerliches, stotterndes Britentum attraktiv fand, ob sie statt des Langweilers zurückhaltenden Charme wahrnahm.
Er hatte den Lebensmittelhändler zum Tee ins Grand Hotel Europe eingeladen, aber der Mann hatte eine große Schau abgezogen und die kleinen Sandwiches und Kuchenstücke abschätzig gemustert und gesagt: »Man kriegt nicht viel für sein Geld, nicht wahr?«, als würde er zahlen und nicht Martin. Eine Menge Mädchen waren da, sehr gut gekleidete russische Mädchen, und der sterbende Lebensmittelhändler sah Martin an, zog die Augenbrauen in die Höhe, machte eine Kopfbewegung in Richtung der Mädchen und sagte: »Wir wissen, was sie sind«, und Martin erwiderte: »Wissen wir das?« Der Lebensmittelhändler schnaubte angesichts von Martins scheinbarer Ignoranz, verzog das Gesicht und lachte. »Sankt Petersburger Bräute.« An seiner fleischigen Lippe hing ein Stück geräucherter Lachs. Martin fragte sich, ob überhaupt noch etwas Sinn hatte. Der Lebensmittelhändler war ein wandelndes, sprechendes Memento mori. »Nein«, sagte er ernst, »ich glaube, sie sind einfach attraktive junge Frauen, ich glaube nicht, dass sie … was anderes sind.«
»Ja, aber was wissen Sie schon, Martin?«, sagte der Lebensmittelhändler gönnerhaft.
Sie hatten in dem hellen, luftigen Café Tee getrunken, doch die Kaviarbar war ein dunklerer, ausgefallenerer Ort mit Buntglas und Kupfer, im russischen s
til modern
. »Wir nennen es Jugendstil«, sagte er zu Irina.
»Da?«,
erwiderte sie, als hätte sie nie zuvor etwas so Faszinierendes gehört.
Auch heute noch, ein Jahr später, sah er die roten und schwarzen Kaviarperlen vor sich, die in kleinen Glasschalen auf zerstoßenem Eis schimmerten. Er aß nichts davon; Fisch war schlimm genug, aber Fischeier waren widerwärtig. Irina schien es nicht zu bemerken und aß alles auf. Sie tranken Champagner, billigen russischen Champagner, der jedoch überraschend gut war. Irina hatte ihn bestellt, ohne ihn zu fragen, hatte ihm zugeprostet und gesagt: »Wir haben gute Zeit, Marty.« Sie hatte sich umgezogen, ihr Haar war hochgesteckt, und sie trug keine Stiefel mehr, sondern Schuhe, aber ihr Kleid war hochgeschlossen und sittsam. Er wollte sie fragen, warum sie an einem Stand unter freiem Himmel Souvenirs verkaufte – ging es ihr finanziell schlecht, oder war es eine Berufung? –, aber etwas so Komplexes konnte er nicht verständlich machen.
In den Stunden zwischen dem Idiot und dem Grand Hotel hatte er über das bevorstehende Treffen nachgedacht. Er hatte sich vorgestellt, dass sie fröhlich plaudern würden, ihr Englisch auf magische Weise verbessert und seine paar unsicheren Brocken Russisch verwandelt in flüssiges Sprechen.
Eigentlich hätte er wie alle anderen ins Ballett im Mariinsky-Theater gehen sollen, aber er hatte »ein leichtes Bauchgrimmen« vorgeschoben, als der Lebensmittelhändler ihn abholen wollte. Der Mann zog verstimmt von dannen, jemand, der mit dem Tod tanzte, ließ eine Magenverstimmung als Entschuldigung offenbar nicht gelten.
Martin sorgte sich, dass Irina das Ganze falsch verstehen und bezahlt werden wollte, aber die Tatsache, dass sie die Rechnung im Café beglichen hatte, schien zu implizieren, dass sie sich nicht verkaufte. Vielleicht war sie auf der Suche nach einem Ehemann. Er hätte nichts dagegen, wirklich nicht. Niemand würde sie im St. James Centre anstarren, so wie sie eine Thaibraut anstarrten. Man würde ihr nicht ansehen, dass sie gekauft war. (Oder doch?)
Ja, Irina Canning, meine Frau. Oh, sie ist Russin. Wir haben uns in St. Petersburg kennengelernt und verliebt. Eine sehr romantische Stadt.
Sie würde Englisch lernen, er Russisch. Sie hätten kleine halbrussische Kinder,
Sascha und Anastasia.
Er würde ihr geben, was sie sich wünschte – finanzielle Sicherheit, ein schönes Zuhause, Kinder, die im
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