Liebesdienste / Roman
leicht zu vergessende Person, eine immerwährende Enttäuschung für Fremde, wenn er ihnen in Fleisch und Blut gegenüberstand. »Oh, Sie sind so
klein!«,
hatte eine Frau nach einer Lesung letztes Jahr erklärt. »Nicht wahr?«, wandte sie sich zwecks Bestätigung an das versammelte Publikum, das ihr gern recht gab, alle nickten und lächelten, als hätte er sich vor ihren Augen gerade in einen Jungen verwandelt. Er war eins fünfundsiebzig groß, nicht gerade ein Zwerg.
Schrieb er wie ein kleiner Mann? Wie schrieben kleine Männer? Auf den Umschlägen seiner Bücher war noch nie ein Foto von ihm gewesen, vermutlich weil seine Verleger nicht glaubten, dass sie sich damit besser verkauften. »O nein«, sagte Melanie, »es macht Sie geheimnisvoller.« Für sein letztes Buch hatten sie es sich anders überlegt und eine berühmte Fotografin geschickt, die versuchen sollte, »Atmosphäre« einzufangen. (»Mach ihn sexy«, lautete ihr genauer Auftrag in einer E-Mail, die versehentlich an Martin weitergeleitet wurde. Zumindest hoffte er, dass es ein Versehen war.)
Die Fotografin schlug Blackford Pond vor mit dem Ziel, triste Schwarzweißaufnahmen unter winterlichen Bäumen zu schießen. »Denken Sie an etwas wirklich Trauriges«, instruierte sie ihn, während Mütter mit kleinen Kindern im Schlepptau, die Enten und Schwäne fütterten, sie mit unverhohlener Neugier beobachteten. Martin konnte nicht auf Befehl traurig sein, Traurigkeit entsprang einem nicht beeinflussbaren visuellen Quell, der allein vom Zufall angezapft wurde – von toten Kätzchen auf Anzeigen des Tierschutzvereins, alten Dokumentaraufnahmen von Brillen- und Kofferhaufen, vom Cellokonzert Nr. 2 von Haydn. Das Rührselige, das Schreckliche und das Erhabene trieben ihm Tränen in die Augen.
»Etwas aus Ihrem Leben«, schmeichelte ihm die Starfotografin. »Wie fühlten Sie sich zum Beispiel, als Sie die Priesterwürde aufgaben, das muss schwer gewesen sein.«
Und Martin, untypisch rebellisch, sagte: »Das mache ich nicht.«
»Zu schwierig für Sie?« Die Fotografin nickte und zog ein gequält mitfühlendes Gesicht.
Auf den Fotos sah er schließlich aus wie ein höflicher Serienmörder aus der Vorstadt, und das Buch wurde wie üblich ohne Foto auf dem Umschlag gedruckt.
»Sie müssen
präsenter
sein, Martin«, sagte Melanie. »Es ist meine Aufgabe, Ihnen das zu sagen«, fügte sie hinzu. Er runzelte die Stirn und sagte: »Ja?« Das Gegenteil von präsent war absent. Ein leicht zu vergessender Mann mit einem leicht zu vergessenden Namen. In der Welt eher absent als präsent.
»Nein, wirklich«, beharrte Sarah, »ich bin sicher, dass ich Sie schon mal irgendwo gesehen habe. Was machen Sie?«
»Ich bin Schriftsteller.« Er bereute sofort, es gesagt zu haben. Zum einen klang es immer, als wollte er angeben (und doch war die Tatsache, dass man Schriftsteller war, als solche kein Grund für Hybris). Und das darauf folgende Gespräch nahm den immer gleichen, unvermeidlichen Verlauf und endete in einer Sackgasse.
»Wirklich? Sie sind Schriftsteller? Was schreiben Sie?« – »Romane.« – »Was für Romane?« – »Kriminalromane.« – »Wirklich? Woher nehmen Sie Ihre Ideen?«
Die letzte Frage empfand Martin als zu ungeheuer, zu neurowissenschaftlich und existenziell, als dass er sich in der Lage gesehen hätte, sie zu beantworten, und trotzdem wurde sie ihm ständig gestellt. »Ach, wissen Sie«, sagte er dieser Tage, »da und dort.« (»Sie denken zu viel nach, Martin«, pflegte sein chinesischer Akupunkteur Ming Chen zu sagen, »aber nicht auf positive Weise.«)
»Wirklich?«, sagte Sarah, und ihre unschuldigen Gesichtszüge kämpften darum, sich vorzustellen, was es hieß, »ein Schriftsteller« zu sein. Aus unerfindlichem Grund hielten es die Leute für einen glamourösen Beruf, aber Martin fand nichts Glamouröses daran, Tag für Tag allein in einem Zimmer zu sitzen und zu versuchen, nicht wahnsinnig zu werden.
»Harmlose Krimis«, sagte er, »nichts zu Böses oder Grusliges. So was wie Miss Marple trifft Dr. Finlay«, fügte er hinzu und war sich bewusst, wie defensiv er klang. Er fragte sich, ob sie von den beiden gehört hatte, wahrscheinlich nicht. »Die Protagonistin heißt Nina Riley«, sah er sich gezwungen fortzufahren. »Sie hat von ihrem Onkel eine Detektei geerbt.« Wie dumm sich das anhörte. Dumm und plump.
Die Polizistinnen von zuvor betraten das Wartezimmer. Bei Martins Anblick rief die eine: »Da sind Sie ja, wir müssen
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