Liebesdienste / Roman
dass St. Petersburg auf seiner Liste der »Dinge, die ich tun will, bevor ich sterbe« stand.
Ihr Hotel war als »eines der besten Touristenhotels« angepriesen worden, und Martin fragte sich, ob »Touristenhotel« der russische Ausdruck für einen gesichtslosen Betonblock aus der Sowjetära war, mit endlosen identischen Korridoren und einem miserablen Restaurant. In seinem Führer hatte er vor der Reise Innenaufnahmen vom Astoria und Grand Hotel Europe betrachtet, Hotels, umwittert von Luxus und vorbolschewistischer Dekadenz. In seinem Hotel waren die Zimmer so groß wie Schuhschachteln. Er war allerdings nicht allein in seiner Schuhschachtel. Als er in der ersten Nacht ins Bad ging, trat er fast auf eine Kakerlake, die auf dem Zimmerteppich weidete. Und zudem wurde gebaut, das Hotel schien gleichzeitig abgerissen und rekonstruiert zu werden. Männer und Frauen auf Gerüsten – offenbar völlig ungesichert. Überall eine feine Schicht aus Zementstaub. Sein Zimmer befand sich im siebten Stock, und als Martin am ersten Morgen die Vorhänge aufzog, sah er vor dem Fenster zwei Frauen mittleren Alters auf dem Gerüst, Kopftücher auf dem Kopf, Werkzeug in der Hand.
Das Zimmer wurde erträglich durch die Aussicht – die weite Fläche der Newa, verziert vom Schnörkel des Winterpalastes, eine so ikonenhafte Ansicht wie Venedig, wenn man über die Lagune darauf zufährt. Vom Fenster aus sah er die
Aurora,
die am Ufer vor Anker lag. »Die
Aurora!«,
rief er aufgeregt am nächsten Morgen beim Frühstück dem sterbenden Lebensmittelhändler zu. »Von ihr wurde während der Revolution der erste Schuss abgefeuert«, erklärte er, als ihn der sterbende Lebensmittelhändler verständnislos anblickte.
Am ersten Tag besichtigten sie Kirchen und folgten ihrer Reiseleiterin Maria pflichtbewusst durch die Kasaner Kathedrale, die Isaak-Kathedrale, die Christi-Auferstehungs-Kirche und die Peter-und-Pauls-Kathedrale (»In der unsere Zaren begraben sind«, sagte Maria stolz, als ob es den Kommunismus nie gegeben hätte).
»Das muss Ihnen gefallen«, sagte der Lebensmittelhändler zu Martin während einer kurzen Mittagspause an einem Ort, der Martin an eine Schulcafeteria erinnerte, nur dass hier Rauchen erlaubt war. »Weil Sie doch so ein religiöser Mensch sind.«
»Nein«, sagte Martin nicht zum ersten Mal, »Religions
lehrer!
Das heißt nicht notwendig, dass ich
religiös
bin.«
»Sie unterrichten also etwas, woran Sie nicht glauben?«, fragte der sterbende Lebensmittelhändler plötzlich richtig streitlustig. Das Sterben machte den Mann selbstgerecht. Oder vielleicht war er es schon immer gewesen.
»Nein, ja, nein«, sagte Martin. Das Gespräch war ihm unangenehm, allein weil er so tat, als wäre er noch Religionslehrer, obwohl er seit sieben Jahren keinen Fuß mehr in eine Schule gesetzt hatte. Er wollte sich nicht als Schriftsteller zu erkennen geben, denn dann wäre er fünf Tage mit den Fragen konfrontiert gewesen, die der Beruf nun einmal provozierte, und der Unmöglichkeit, sich zu verstecken. Einer von ihnen, ein Mann, der während des Flugs auf der anderen Seite des Gangs saß, las
Der verwunschene Hirsch,
den zweiten Nina-Riley-Krimi. Martin hätte gern – beiläufig – »Gutes Buch?« gesagt, wollte jedoch die Antwort nicht hören, die wahrscheinlich »Ein Haufen Mist« und nicht »Das ist ein phantastisches Buch, Sie sollten es unbedingt lesen!« gelautet hätte.
Martin gab es auf, dem Lebensmittelhändler gegenüber seine nicht vorhandene Religiosität zu beteuern, schließlich bereitete sich der Mann aufs Sterben vor, und womöglich war der Glaube alles, was ihn noch am Leben hielt, der Glaube und das Abhaken der Posten auf seiner Liste. Martin fand es nicht gut, eine Liste zu machen, denn wenn man den letzten Punkt abgehakt hatte, blieb nur noch das Sterben. Aber vielleicht war das der letzte Punkt.
Als sie nach dem Mittagessen in einer Seitenstraße einen Kanal entlanggingen, kamen sie an einem Schild vorbei, einer hölzernen Anzeigentafel auf dem Gehsteig, auf der stand: »St. Petersburger Bräute – treten Sie ein«. Ein paar aus ihrer Gruppe kicherten, und der Lebensmittelhändler, der an Martin klebte, bis er tatsächlich starb, sagte: »Wir wissen alle, was das heißt.«
Martin fühlte sich kurz schuldig. Er hatte im Internet recherchiert. Und überlegt, sich eine Braut zu kaufen (denn, seien wir ehrlich, umsonst bekam er keine). Als der Erfolg einsetzte, hatte er geglaubt, dass er dadurch für
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