Liebesdienste / Roman
drohend, verteidigten ihr Territorium. Die Insel war viel kleiner, als er gedacht hatte, in null Komma nichts hatte er sie umrundet. Er begegnete niemandem, worüber er froh war. Er wollte gar nicht daran denken, was für Psychopathen sich an einem Ort wie diesem herumtreiben mochten. Offensichtlich zählte er sich nicht zu dieser Kategorie. Obwohl er keine Menschenseele sah, hatte er das seltsame Gefühl – dem er bei helllichtem Tag nicht nachgeben wollte –, dass er beobachtet wurde. Ein kleiner Anfall von Paranoia, nichts weiter. Er wollte nicht schrullig werden, aber als sich eine dicke lila Wolke vom Meer her näherte und unerbittlich den Forth hinaufzog, schien sie ein willkommenes Signal, den Rückweg anzutreten.
Er blickte auf die Uhr. Vier Uhr – Zeit für Tee auf dem Planeten Julia. Er erinnerte sich an einen warmen trägen Nachmittag im vergangenen Sommer, den sie gemeinsam in den Orchard Tea Rooms in Grantchester verbracht hatten, auf Liegestühlen unter Bäumen, angefüllt mit Tee. Sie hatten Julias Schwester, die noch in Cambridge lebte und abgelehnt hatte, sich an ihrer Spritztour zu beteiligen, einen kurzen, etwas unangenehmen Besuch abgestattet. »Spritztour« war Julias Wort. Julias Vokabular war »knallvoll« mit merkwürdig archaischen Wörtern – »knorke«, »Dummlack«, »Ojemine« –, die aus einem Mädchen-Jahrbuch aus der Vorkriegszeit zu stammen schienen und nicht aus Julias eigenem Leben. Für Jackson waren Wörter funktional, sie waren hilfreich, um an Orte zu gelangen und Dinge zu erklären. Für Julia waren sie aufgeladen mit unerklärlichen Gefühlen.
»Nachmittagstee« gehörte selbstredend zu Julias ewigen Lieblingsausdrücken (»Auch einzeln gute Wörter, aber zusammen perfekt«). »Nachmittagstee« ging in der Regel mit ein paar ausdrucksstarken Adjektiven einher – »prima«, »lecker«, »himmlisch«.
»Warme Brotzeit« war ein weiterer ihrer Lieblingsausdrücke, ebenso wie (mysteriöserweise) »Herbsttagundnachtgleiche« und »Lampenruß«. Bei manchen Wörtern, sagte sie, zogen sich ihr »eindeutig die Zehen vor Glück zusammen« – »ulkig«, »ordinär«,
»blanchisserie«,
»Wagnis«, »perfide«, »Schatz«,
»divertimenti«.
Bestimmte Fragmente oder Gedichtzeilen –
Sein Gebein ward zu Corallen
und
Sie fliehen mich, die mich suchten
– lösten eine sentimentale Verzückung bei ihr aus. Beim »Halleluja-Chor« musste sie schluchzen, ebenso bei
Lassies Heimweh
(den ganzen Film über, vom Titel bis zum Abspann). Jackson seufzte. Jackson Brodie, der ewige Gewinner bei
Mann und Frau
.
Sein Handy summte in seiner Tasche wie eine gefangene Biene. Er schaute auf das Display – ein Sehtest wäre etwas Sinnvolles, was er hier machen könnte. Eine SMS von Julia:
wg? freik. für r moat, heute abend! ild julia xxxxxxxxxxxx
. Jackson hatte keine Ahnung, was der Text bedeutete, aber er fühlte Zuneigung in sich aufsteigen, als er daran dachte, wie fleißig Julia die x-Taste gedrückt hatte.
Er wollte gerade umkehren, als ihm auf den Felsen, unterhalb der Überreste einer Aussichtsplattform aus Beton, etwas ins Auge stach. Einen Augenblick lang dachte er, es wäre ein Kleiderbündel, das jemand dort hingeworfen hatte, aber es dauerte nicht länger als einen erschrockenen Herzschlag, bis ihm klar war, dass die Flut eine Leiche angespült hatte. Strandgut, oder hieß es Treibgut?
Eine junge Frau, Jeans und ärmelloses Top, nackte Füße, langes Haar. Der Polizist in ihm registrierte automatisch: sechzig Kilo, knapp eins siebzig – die Größe war geschätzt, weil sie dalag wie ein Fötus, die Beine angezogen, als hätte sie sich zum Schlafen auf die Felsen gelegt. Was für ein schöner Körper – ästhetisch und asexuell wie die kalten marmornen Glieder einer Statue im Louvre.
Ertrunken? Frisch, keine Wasserleiche, die untergegangen und als Albtraum aus glitschigem, aufgeschwemmtem Fleisch wieder aufgetaucht war. Er war froh, dass sie nicht nackt war, denn das hätte sofort etwas anderes impliziert. Jackson rutschte den grasbewachsenen Abhang hinunter auf die Felsen, die von heimtückischen Muscheln und glattem Tang übersät waren. Der Körper wies keine Auffälligkeiten auf, keine Würgemale am Hals, der Schädel schien unverletzt. Keine Nadeleinstiche, keine Tätowierungen, keine Muttermale, keine Narben, sie war eine leere Leinwand, nur winzige goldene Kruzifixe in den Ohren. Die grünen Augen – halb geöffnet – waren trübe vom Tod und so blind
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