Liebesdienste / Roman
Intensivstation. Beryl, Grahams Mutter, hatte gestrickt, ununterbrochen ganze Sets produziert, als Emily und Ewan Babys waren – Mützen, Jäckchen, Fäustlinge, Schühchen, Strampelhosen, verziert mit kniffligen Bändern und voller Löcher, in denen sich winzige Finger verfingen. Gloria hatte ihre Kinder herausgeputzt wie Puppen. Emily steckte die seltsamerweise Xanthia genannte in praktische elastische weiße Strampelanzüge und Pudelmützen. Gloria sah ihre Enkelin nur selten. Als Emily verkündete, sie sei schwanger, hätte man meinen können, sie wäre die erste Frau auf dem Planeten, die ein Baby bekam. Gloria wäre aufgeregter gewesen, wenn ihre Tochter ein Hündchen zur Welt gebracht hätte statt der permanent zornigen Xanthia, die Emilys schlimmste Eigenschaften geerbt zu haben schien.
Sie schaute auf das regelmäßige Heben und Senken von Grahams Brustkorb, sein ausdrucksloses Gesicht. Er wirkte kleiner, verlor seine Macht, schrumpfte, war nicht länger ein Halbgott. Wie die Mächtigen gefallen sind. Graham gab ein leises Geräusch von sich, flüsternd, als würde er im Schlaf sprechen. Sein Gesicht jedoch blieb reglos. Gloria strich mit der Rückseite eines Fingers über seine Hand und verspürte einen Stich Bedauern. Nicht so sehr für den Mann Graham als für den Jungen Graham, den sie nie gekannt hatte, ein Junge in langer Hose und grauem Hemd, mit Schulkrawatte und -mütze, ein Junge, der nichts von Ehrgeiz, von Bereicherung und Callgirls wusste. »Du dummer Idiot«, sagte sie nicht gänzlich gefühllos.
Was würde mit ihm geschehen, sollten die Maschinen abgestellt werden? Würde er in einen inneren Raum treiben, ein einsamer Astronaut, aufgegeben von seinem Mutterschiff? Es wäre komisch (vielleicht nicht komisch, sondern erstaunlich), wenn es ein Leben nach dem Tod gäbe. Wenn es einen Himmel gäbe. Gloria glaubte nicht an das Paradies, aber bisweilen sorgte sie sich, dass das Paradies nur für die existierte, die tatsächlich daran glaubten.
Sie fragte sich, ob die Leute so erpicht auf ein nächstes Leben wären, wenn es unter der Erde stattfände. Oder von Menschen wimmelte, die wie Pam wären. Und unbarmherzig langweilig wie eine endlose baptistische Predigt, aber ohne die Aufregung einer gelegentlichen Trance. Für Graham bestünde das Paradies vermutlich in einem dreißig Jahre alten Macallan, einer Montechristo und offenbar Miss Peitsche.
Er hatte sich für unbesiegbar gehalten, doch der Tod hatte ihn gekennzeichnet. Graham hatte geglaubt, dass er sich überall freikaufen konnte, aber der Sensenmann ließ sich mit Grahams Bakschisch nicht schmieren. Der SENSENMANN , korrigierte sich Gloria – wenn jemand Großbuchstaben verdiente, dann der TOD . Gloria wäre gern der SENSENMANN gewesen, ein gut gelaunter.
(Jetzt komm schon mit, mach nicht so ein Theater.)
Die werden mich nie kriegen,
hatte Graham gesagt. Graham, der sich immer gerierte, als wäre er unantastbar, ein Außenseiter, ein Gesetzloser, für den die normalen Regeln nicht galten, der triumphierend damit prahlte, wenn er das Finanzamt oder den Zoll übers Ohr haute, die Gesundheits-, Sicherheits- und Bauvorschriften umging, durch das Baureferat stürmte und Bestechungs- und Schmiergelder verteilte, mit hundertsechzig Stundenkilometern auf der Überholspur dahinraste in seinem verdammten großen Wagen mit den schwarzen Fenstern. Wozu brauchte man schwarze Fenster, wenn man nichts Unrechtes vorhatte? Gloria mochte keine zugezogenen Vorhänge, keine geschlossenen Türen, alles sollte voll einsehbar sein. Wenn man etwas tat, wofür man sich schämte, sollte man es nicht tun.
Zweimal hatte er es verhindern können, dass er wegen Geschwindigkeitsüberschreitung angeklagt wurde, einmal wegen Gefährdung anderer und einmal wegen eines zu hohen Alkoholspiegels – zweifellos dank eines Kumpels bei Gericht. Vor ein paar Monaten war er auf der A9 mit hundertachtzig Stundenkilometern angehalten worden, während er gerade ein Gespräch auf seinem Handy führte und gleichzeitig einen doppelten Cheeseburger aß. Und nicht nur das! Als er blasen musste, hatte er zu viel Alkohol im Blut. Doch der Fall kam nie vor Gericht. Er wurde praktischerweise wegen eines Formfehlers eingestellt, weil Graham die falschen Unterlagen erhalten hatte. Gloria konnte ihn sich nur zu gut vorstellen, eine Hand am Steuerrad, das Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt, das Fett tropfte ihm aufs Kinn, sein Atem stank nach Whisky. Seinerzeit hatte Gloria gedacht,
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