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Liebesdienste / Roman

Liebesdienste / Roman

Titel: Liebesdienste / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Katholiken und Protestanten. Ein Spiel mit zwei Seiten. Eine immerwährende manichäische Dichotomie. Es war ihr freier Tag, und sie hätte schwimmen gehen können, ein Buch lesen, Wäsche waschen können, aber nein, sie hatte sich dafür entschieden, den verdammten Berg hinaufzulaufen. Bekenntnisse eines gerechtfertigten Sünders. »(Scheinbar) Unauflösliche Gegensätze und die schottische Psyche.« Sie hatte ihre Abschlussarbeit über James Hogg geschrieben, aber wer hatte das nicht?
    Am Abend zuvor hatte sie drei, wie sie dachte, bescheidene Gläser Wein getrunken, aber jetzt forderten sie ihren Tribut. Ihr Mund fühlte sich an wie ein alter Stiefel, und die Pekingente, die sie zum Wein gegessen hatte, lebte noch in ihr wie ein zäher alter Vogel. Ein seltener, verspäteter Mädchenabend im Jasmine, um Louises zwei Wochen zurückliegende Beförderung zu feiern. Danach hatten sie sich noch »etwas auf dem Festival« angesehen, ein vages, nicht geplantes Unterfangen, das nicht berücksichtigte, dass alles Gute längst ausverkauft war, als sie ankamen. Sie landeten in einer Spelunke, angemessenerweise neben dem Leichenschauhaus der Polizei, wo ein schrecklicher Kabarettist auftrat, der seine besten Zeiten längst hinter sich hatte. Drei Glas Wein, und Louise hechelte. Auf dem Rückweg waren sie wie Rowdys durch die Old Town gezogen und hatten »You Make Me Feel Like a Natural Woman« gegrölt – was für ein Kaffeekränzchen. Louise dachte, es sei bestimmt Carole Kings Version des Songs und nichts Zügelloseres gewesen, aber vielleicht täuschte sie sich da auch. Sie hatten Glück gehabt, dass die Polizei nicht eingeschritten war. Sie schämte sich.
    Das hatte sie jetzt davon, dafür bezahlte sie, denn kein noch so tugendhaftes Mitglied der engstirnigen Kirche von Schottland kam ungeschoren davon.
    Auf halber Höhe der Steigung begann sie zu keuchen. Sie war achtunddreißig und besorgt, dass sie nicht so fit war, wie sie sein wollte, sein sollte.
    Sie spürte einen Schmerz genau an der Stelle, wo ihr Blinddarm gewesen wäre, hätte sie ihn noch – sie stellte sich einen leeren Raum vor, in dem er sich wie ein fetter Wurm geaalt hatte. Er war letztes Jahr entfernt worden (»herausgerupft« war die Version, an die sich das Krankenhauspersonal hielt). Sowohl ihrer Mutter als auch ihrer Großmutter war der Blinddarm herausgenommen worden, und sie fragte sich, ob sich auch Archie einer Appendektomie würde unterziehen müssen.
    Archie sprach davon, in dem Jahr zwischen Schule und Universität zu reisen, obwohl mit vierzehn beides – das Reisen und das freie Jahr – noch wie eine weit entfernte, nebulöse, unwahrscheinliche Zukunft erscheinen musste. Vielleicht könnte sie ihn davon überzeugen, sich überflüssige Organe freiwillig entfernen zu lassen, bevor er loszog
(falls
er loszog, sie konnte sich nicht vorstellen, dass er die Energie aufbrachte, er war so träge), damit er nicht auf halber Höhe bei der Besteigung eines Bergs in Neuseeland mit Bauchfellentzündung hängen blieb. Hundert Jahre früher, und Louise wäre jetzt tot. Oder Zähne – Zähne mussten viele Leute umgebracht haben, Abszesse, die zu Blutvergiftung führten. Ein Kratzer, eine Erkältung. Es brauchte nur ganz wenig. Ihre Mutter war an Leberversagen gestorben, ihre Haut verfärbt wie altes Pergament, ihre Organe gepökelt. Geschah ihr recht. Als Louise letzte Woche beim Bestattungsunternehmen war, um sich ihre Mutter anzusehen, musste sie dem Impuls widerstehen, eine Nadel mitzunehmen und sie ihr in das gelbe Fleisch (wie ranziger Käse) ihrer Nase zu stoßen – der alte Matrosentrick für auf See Gestorbene –, nur um sich zu überzeugen, dass sie wirklich tot war.
    Die Mutter war vor drei Tagen bestattet worden, im Mortonhall-Krematorium, eine Zeremonie so dumpf wie ihr Leben. Obwohl sie Aileen hieß, hatte der zuständige Pfarrer sie immer Eileen genannt, doch weder Louise noch die klapprige Truppe von Leuten, die sich als die Freunde ihrer Mutter betrachteten, machten sich die Mühe, ihn zu korrigieren. Louise gefiel die Art, wie »Eileen« ihre Mutter als jemand ganz anders erscheinen ließ, als eine Fremde.
    Als sie in der Einfahrt ihre abschließenden Dehnübungen machte, bemerkte sie, dass etwas vor der Tür stand, dort, wo die Milch stünde, würde in dieser Gegend Milch ausgeliefert. Ein unauffälliger brauner Behälter. Plötzlich überkam sie eine irrationale Angst. Eine Bombe? Irgendein verrückter Scherz? Würde sie

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