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Liebesdienste / Roman

Liebesdienste / Roman

Titel: Liebesdienste / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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des Piers hinauslief und ins Wasser fiel, während die Leute vor Entsetzen aufschrien. Der Mann geriet sofort in Schwierigkeiten, und zwei weitere Männer stürzten sich hinein. Es waren Brüder, beide zwischen dreißig und vierzig, verheiratet, mit zusammen fünf Kindern. Nur der Hund schaffte es lebend aus dem Wasser. Auch Jackson wäre hineingesprungen, hätte sich nicht eine hysterische vierjährige Marlee an sein Bein geklammert und ihn festgehalten. Das Boot der Wasserwacht war bereits unterwegs, sagte er sich später, doch bis heute hatte er es sich nicht verziehen, und wenn er die Zeit zurückdrehen könnte, würde er Marlee abschütteln und ins Wasser springen. Es war kein Heroismus, es war eine Notwendigkeit. Vielleicht war es auch etwas Katholisches.
    Er tauchte unter, hielt noch immer das bleischwere Mädchen fest. Irgendwo in seinem Kopf hörte er Marlee schreien,
Daddiie,
und die alte Frau an der Bushaltestelle sagen,
Es ist sehr schön in Cramond,
es wird Ihnen gefallen,
und einen glorreichen Augenblick war er wieder in seinem Swimmingpool in Frankreich, die warme Sonne schien auf die türkisfarbenen Mosaike. Er wusste, dass er immer weiter vom Land wegtrieb, dass die Tote ihn hinunterziehen würde wie eine liebeskranke Meerjungfrau. Halb Frau, halb Fisch, Pisces. Er erinnerte sich an eine Zeile des Gedichts von Laurence Binyon,
Sie werden nicht alt werden, wie wir, die wir noch leben, alt werden.
Es wäre wahrhaftig eine Ironie des Schicksals, wenn er ertrinken würde bei dem Versuch, eine Leiche zu retten. Er fragte sich, ob ein Teil von ihm glaubte, dass sie tatsächlich noch zu retten war. (Das wäre wieder der verflixte Katholizismus.) Er fragte sich, ob er noch immer die drei Männer vom Pier in Whitby zu retten versuchte. Wenn er sich selbst retten wollte, musste er sie loslassen. Aber er konnte es nicht.
    Die kleine Meerjungfrau,
Marlee hatte das Buch geliebt, als sie klein war. Sie würde nie wieder klein sein, sie stand auf der Schwelle zu ihrer Zukunft. Wenn er ertränke, würde er sie nie sehen in dieser Zukunft.
Die brausenden Wasser
. Er wusste nicht, warum ihm diese Worte einfielen, sie mussten jemand anderem gehören.
Sein Gebein ward zu Corallen.
Keine Korallen im Forth. Julia, braun wie eine Haselnuss, schwamm in seinem Pool in Frankreich, Julia stakte ihn im Boot den Fluss in Cambridge hinunter, Julia, die Fährfrau, die ihn über den Styx ruderte. Marlee hatte ein Buch mit dem Titel
Griechische Mythen für Kinder,
das er ihr vorlesen musste. Er hatte eine Menge dabei gelernt, seine Einführung in die Klassik.
    Er schickte ein Gebet zu dem Gott empor, der an diesem Nachmittag Dienst hatte, ein weiteres zu Maria, der Mutter Gottes, ein rezessiver Instinkt, der Kniereflex eines vom Glauben abgefallenen Katholiken, der dem Tod ins Gesicht blickte. Würde es so passieren? Keine letzten Riten, keine Letzte Ölung? Er hatte immer gedacht, dass er am Schluss zurückkehren, sich wieder zur Herde gesellen, die Mutter aller Kirchen umarmen und sich seine Sünden vergeben lassen würde, aber jetzt hätte er wohl nicht mehr Zeit dafür.
    Er hatte gesehen, wie die Leiche seiner Schwester aus dem Kanal gezogen wurde. Natürlich –
deswegen
war es nicht sein Element, warum war er nicht schon früher darauf gekommen? Es hatte nichts mit Sternzeichen zu tun.
Stella maris
. Maria mit der Sternenkrone auf dem Kopf. Wasser, überall Wasser. Er sank in die Tiefe, hinunter in Poseidons Reich, die Meerjungfrau nahm ihn mit nach Hause.

11
    G raham war von der Notaufnahme auf die Intensivstation verlegt worden. Sein Zustand war unverändert. Gloria fragte sich, ob er für immer so bleiben würde, reglos wie ein Steinbildnis auf einem Sarkophag. Vielleicht müsste er in ein Pflegeheim, wo er noch jahrzehntelang kostbare Ressourcen verbrauchte und anderen Menschen, die es mehr verdienten, Nieren und Hüften vorenthielt. Wenn er jetzt starb, konnten Teile von ihm in einer nützlicheren Person recycelt werden.
    Es war still auf der Intensivstation, der Rhythmus des Lebens schien langsamer und dichter als in der Welt draußen. Man spürte förmlich, dass das Krankenhaus eine große brummende Maschine war, Luft einsaugte und ausstieß, aus seinen Poren unsichtbares Leben – Chemikalien, atmosphärisches Rauschen, Bakterien – verströmte.
    Gloria bedauerte, dass sie nicht strickte, sie könnte nützliche Kleidungsstücke produzieren, während sie darauf wartete, dass Graham starb. Die
tricoteuse
der

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