Liebesfluch
zeige es Felix.
Neugierig beugt sich Felix über den Brief und beginnt dann, laut zu lesen:
Suzanne,
es scheint mir das einzig Mögliche. Wir müssen fort, sonst werden wir wie alle hier in diesem Ort. Verbohrt und kaltblütig. Ich werde es erst tun, wenn du schon unterwegs bist, um sicherzugehen, dass dir nichts passieren kann, dich nichts mehr an einem neuen Leben hindern wird. In Frisco werden wir frei sein, frei … und alles hinter uns lassen.
Dann dreht Felix den Brief um und liest das Gedicht. Er murmelt die Zeilen leise vor sich hin und ich schließe die Augen und lausche seiner Stimme. Plötzlich hört er auf, noch bevor der Text zu Ende ist, ich öffne verwirrt die Augen und sehe ihn fragend an.
Felix wedelt mit dem Brief vor meinem Gesicht herum. »Das kommt mir bekannt vor. Ziemlich bekannt sogar.«
»Das kann nicht sein, das hat Georg damals für Oma geschrieben«, widerspreche ich ihm. »Und ich finde es so schön, dass ich es inzwischen auswendig kann.«
Felix schüttelt den Kopf. »All that way to China … ich hab das ganz bestimmt schon mal wo gehört. Gedichte lese ich nicht, also muss ich es von woandersher kennen. Aber woher … hmmm, ja … das ist ein Song!«
»Blödsinn, das hätte Oma doch gemerkt!«, erwidere ich, und obwohl Felix mich skeptisch ansieht, möchte ich trotzdem weiterhin daran glauben, dass Opa das Gedicht nur für Oma geschrieben hat.
»Hast du mit ihr darüber geredet?«
»Nein, ich habe ihr nie gesagt, dass ich den Brief gefunden habe, weil sie jedes Mal so sauer wurde, wenn ich von Georg gesprochen habe oder etwas über ihn wissen wollte.«
»Blue, ich bin ganz sicher, ich habe das neulich erst gehört, und ich denke, es war an dem Abend, als ich im Sunset zum ersten Mal auflegen durfte.« Felix steht auf und geht zu dem CD-Regal. »Ich wollte den Landeiern etwas Besonderes bieten. Es war nichts Aktuelles, sondern was Älteres, das weiß ich noch. Electronic-Punk-Rock, ziemlich abgefahrener Sound. Hat mir ’n Kumpel in Frankfurt auf CD gebrannt.« Felix dreht an seinem Pferdeschwanz, während er die CD-Reihen absucht. »Warte mal, gleich hab ich’s.«
Electronic-Punk-Rock – keine Ahnung, was das für Musik sein soll. Da, er zieht eine CD aus dem Regal und wedelt mir damit zu.
»Die Band heißt The Parasites.«
»Klingt ja toll!« Parasiten. Schmarotzer. Vorne auf dem Cover sind ein paar fiese Krabbeltiere abgebildet. »Compost« i st der Name des Albums. Ich rümpfe die Nase. Kompost hört sich nicht gerade sonderlich romantisch an – und nach Liebesgedichten klingt es schon gar nicht. Felix muss sich täuschen! Opas wundervolles Gedicht stammt niemals von einer CD mit dem Titel Compost. Never ever!
Er legt die CD ein. »Hör mal.«
Ohrenbetäubender Lärm erfüllt das Zimmer, man versteht den Text zwar kaum, aber leider, leider ist es definitiv der gleiche Text, der hinten auf dem Brief von Georg steht. Und der Text passt so gut zu diesem Sound wie ein Teddybär zur Kettensäge. Es ist unfassbar! Mit offenem Mund lausche ich der Musik, die aus den Boxen wummert … and you want to travel with her …
»Das reicht schon. Mach aus. Von wann ist denn das Album?«, frage ich völlig desillusioniert.
Felix schaut auf dem CD-Booklet nach. »Es ist 1999 rausgekommen.«
Tausend Gedanken rasen durch meinen Kopf – was soll das denn nun bedeuten? War der Brief gar nicht von Georg? Hab ich das nur geglaubt und in Wahrheit ist es eine Fälschung? Blödsinn, wer sollte einen gefälschten Brief in Omas Nachttisch legen – und vor allem, warum? Nein, der Brief ist bestimmt echt, die verblasste Tinte und diese altmodische deutsche Schrift … ganz bestimmt stammt er von Georg.
Am liebsten hätte ich geweint. The Parasites, Compost – so ein Mist!
»Hey Blue, das ist doch nicht so schlimm! Männer sind so, klauen gerne mal was, um Frauen zu beeindrucken.« Felix wackelt mitleidig mit dem Kopf.
»Aber es ist doch unmöglich«, plötzlich sehe ich wieder klar, »dass jemand 1968 einen Song von einem Album klaut, das erst im Jahr 1999 rausgekommen ist.«
Felix schaut mich verblüfft an und schlägt sich dann an die Stirn. »Natürlich, du hast vollkommen recht! Mann, sind wir blöd! The Parasites haben den Song geklaut, besser gesagt, sie haben ihn gecovert. Suzanne ist gar nicht auf ihrem eigenen Mist gewachsen.« Felix lacht über seinen dummen Witz, steht auf und geht zum Laptop.
»Suzanne 1968«, murmelt er und hackt auf die Tasten. Dann stößt er ein
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