Liebesgruesse aus Deutschland
und nicken die ganze Zeit, wie bei einem Gebet – als würden sie in diesem aufgeschriebenen Leben ihr eigenes erkennen. Wenn ich ihnen aber über meine Reisen durch den Westen vorlese, schmeißen sie sich vor Lachen weg. Ich verstehe: Wer will schon über sich selbst lachen?
Zwei Jahre sammelte ich Geschichten aus dem Westen, damit meine Leser im Osten etwas zu lachen hatten. In dieser Zeit wurden die ostdeutschen Städte noch frischgestrichener, noch sauberer und noch menschenleerer.
Selbst die Tauben mieden die Rathausplätze, sie wussten, dass dort keine Essensreste, kein Müll, nicht einmal eine Zigarettenkippe zu finden war. Auf den Straßen hörte man kein Kindergeschrei und keine Lieder. Es gab zwei Sorten von Touristen in diesem Disneyland ohne Mickeymaus : die Omas aus Westdeutschland und die Japaner. Beide gingen früh schlafen, und kaum war die letzte Oma im Bett, durchdrang ein geheimes Signal die Städte, die Bürgersteige wurden hochgeklappt, und die Lichter gingen aus: gute Nacht, Ostdeutschland. In den großen, noch im Sozialismus gebauten Mehrfamilienhäusern leuchteten zwei, drei Fenster, die anderen hundert waren dunkel, aber mit Vorhängen dekoriert, wahrscheinlich, um den Leerstand zu kaschieren. Die Töpfe mit Geranien auf den Fensterbrettern der leeren Wohnungen sollten vermitteln, wir sind schon da, wir gehen bloß gerne wie gewohnt früh schlafen! Doch das konnte ich nicht glauben, dass die ganze Stadt sich hinlegte, noch bevor der Film um 20.15 Uhr zu Ende war. Mit Einbruch der Dunkelheit verlor diese Landschaft ihre vorgegaukelte Gemütlichkeit und wurde zu einer Zombiestadt.
In Erfurt lief ich am frühen Abend gut zwei Stunden durch die Straßen und traf nirgendwo eine Menschenseele. Im Kaufhaus gingen die automatischen Türen auf und zu, obwohl niemand herein- oder herauskam, die Rolltreppen leuchteten und rollten ohne Benutzer, der Wasserfall in der Mitte blubberte, und der Parkplatz war voller Autos, nur ihre Fahrer waren verschwunden, wie weggeleckt. Im großen Multiplexkino liefen in den leeren
Sälen zehn unterschiedliche Filme, und im Korridor hörte man den überfüllten Popcornautomaten vor sich hin knurren.
In der Pension, in der man mich untergebracht hatte, war ebenfalls keine Menschenseele zu sehen. »Bei der Abreise legen Sie den Schlüssel bitte auf den Nachttisch, und lassen Sie die Tür offen« stand auf einem Zettel, den ich neben dem Bett fand. Alles wirkte unheimlich, nicht nur die dunklen Fenster, auch die Läden in den Erdgeschossen: eine Bäckerei, ein Friseursalon, noch ein Friseursalon und noch einer… Drei Friseursalons nebeneinander ? Wie konnte das sein? Da stimmte etwas nicht! Eine Armee unheimlicher Friseure hatte die ostdeutschen Städte unter ihre Kontrolle gebracht und den Menschen die Haare wegrasiert. Die Ostdeutschen wurden von den Friseuren unter enormen Druck gesetzt. Die mit allzu raschem Haarwuchs mussten auswandern, nur die Glatzen, die sowieso nichts zu verlieren hatten, blieben. Tagsüber sah man hier in der Tat viele Glatzen, bei den Älteren durch angestrengtes Nachdenken hervorgerufen, bei den Jüngeren durch die Berichterstattung im Fernsehen. Wenn einem jahrelang und auf allen Kanälen eingebläut wird, wie ein Ostdeutscher auszusehen hat, nämlich mit Stiefeln, Glatze und Kampfhund, dann darf man sich nicht wundern, wenn solche Outfits sich in der Realität durchsetzen. Das Fernsehen bestimmt das Sein. Aber nach 21.00 Uhr hatten hier sogar die Hooligans Feierabend.
Die ganze Zeit hatte ich auf dieser Reise das Gefühl,
hinters Licht geführt zu werden. Ich glaube nicht an die Gemütlichkeit der ostdeutschen Städte. Ich glaube eher, dass hier sehr viele »den Schlüssel auf den Nachttisch gelegt und die Tür offen gelassen« haben. Die Friseure und die Hooligans, alle, die diese Stadt tagsüber zum Leben erwecken, kommen von außerhalb. Es sind Pendler auf 1-Euro-Job-Basis, die von der Stadtverwaltung beauftragt wurden, das städtische Innenleben kreativ zu gestalten. Jeden Morgen kommen sie hierher, laufen die Straßen herunter, gießen die Geranien auf den Fensterbrettern, und manchmal vergessen sie, bei der Abreise den Wasserfall auszuknipsen.
Meine letzte Station war Rostock, eine der lebendigsten ostdeutschen Städte. Das Leben hier brummte, die Schülergruppe vor dem McDonald’s und die Jogger in der Fußgängerzone schienen echt zu sein. Am Taxistand standen fünf Frauen mit Dauerwellen und warteten auf Kundschaft. Es waren
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