Liebeskind
dich doch bitte für einen Moment zu mir.“
Anna klopfte auf den freien Platz neben sich auf der Küchenbank.
„Wir haben uns überlegt, wie wir dabei helfen können, dass du dein Versprechen, mit dem Grasrauchen aufzuhören, einhältst. Ich denke, wir sollten uns als Familie insgesamt noch mehr umeinander kümmern, Ben. Da sich dein Bruder Paul, wie du bestimmt weißt, noch immer davor fürchtet, nach seinem Tennistraining allein durch den Wald bis zum Bus zu gehen, möchte ich, dass du ihn in Zukunft begleitest. Mit Sicherheit wird ihn das ungeheuer stolz machen, und ich glaube auch, dass Paul von dir am besten lernen kann, wie man erwachsener wird.“
Anna beobachtete, wie Ben bei ihrem letzten Satz auf seinem Platz gewachsen war und lächelte.
„In Ordnung, Mam, ich übernehme das mit dem Kleinen.“
„Jetzt komme ich allerdings zu einer Sache, die dir wahrscheinlich weniger gefallen wird, die wir aber trotzdem für nötig halten. Ab sofort wirst du kein Geld mehr zur freien Verfügung haben, Ben. Das bedeutet natürlich nicht, dass du dir jetzt keine Computerzeitschriften oder Ähnlichesmehr kaufen kannst, sondern lediglich, dass du uns vorher fragen musst, wenn du etwas haben willst. Wir werden dir dann den jeweiligen Betrag dafür geben.“
„Aber ich bin doch kein Baby mehr!“
„Nein, das bist du nicht, Ben, doch du bist auch noch nicht ganz erwachsen. Und unsere Maßnahmen werden dir dabei helfen, in Zukunft nicht mehr so leicht in Versuchung zu geraten.“
Anna versuchte ihren Sohn in den Arm zu nehmen, doch Ben verweigerte sich dieser Geste, indem er von der Küchenbank aufsprang.
„Und jetzt, nachdem du deine Anweisungen gegeben hast, musst du wieder zur Arbeit, oder wie? Das ist doch kein Gespräch gewesen, Mam!“
„Da hast du natürlich Recht, und ich verspreche dir, dass wir es sobald wie möglich nachholen. Glaub mir, ich würde heute Abend nur zu gern zu Hause bleiben und mich über den von dir gedeckten Tisch freuen und weiter mit dir reden. Aber es geht nun einmal nicht.“
Es war gegen neun Uhr desselben Abends. Anna Greve und Sigrid Markisch standen und warteten bereits seit über einer Stunde in ihren Autos vor Hajo Wielands Haus, als dieser mit hochgeschlagenem Mantelkragen herauskam und um die Ecke verschwand. Anna startete ihren Wagen, dann funkte sie die Giraffe an.
„Wir müssen uns trennen, für den Fall, dass der Täter hier noch auftauchen sollte. Ich folge Hajo Wieland, Sie bleiben erst mal vor Ort, einverstanden?“
In der Straße angekommen, in der sich auch das Haus von Marianne Lorenz befand, begann Hajo Wieland langsamer zu gehen. Vor dem Grundstück der Lorenzens blieber stehen und schaute sich aufmerksam nach allen Seiten um, dann überquerte er die Straße und hechtete anschließend mit einem kurzen Sprung über die Gartenpforte. Hajo Wieland hatte noch nicht einmal die Haustür der Lorenzens erreicht, als sich diese bereits öffnete. Kaum war er in dem dunklen Hausflur verschwunden, fiel auch schon die Eingangstür hinter ihm ins Schloss.
Kurz darauf konnte Anna hinter dem Vorhang des Lorenz’schen Wohnzimmers zwei sich umarmende und küssende Schatten wahrnehmen. Anna steckte sich eine Zigarette an.
Zwei Stunden später verließ Hajo Wieland das Haus von Marianne Lorenz wieder. Anna überlegte, was er seiner Frau Karin wohl als Grund für sein spätes Weggehen angegeben hatte. Vielleicht hatte er ihr irgendeine Geschichte von einem Herrenabend oder aber von einer wöchentlichen Kegel- oder Skatrunde aufgetischt. Männern fehlte ja meist die Fantasie für eine gute Ausrede, die ihre Frauen ruhig schlafen ließ. Anna folgte Hajo Wieland in ihrem Wagen zurück zu seinem Haus, wo sie ihren dunkelblauen Golf hinter dem Vectra der Giraffe einparkte und sich kurz darauf neben Sigrid Markisch auf den Beifahrersitz fallen ließ.
„Hat sich hier während meiner Abwesenheit etwas getan?“, fragte Anna.
„Nein, in diesem Dorf scheinen die Bürgersteige tatsächlich um acht Uhr hochgeklappt zu werden. Ein älterer Mann hat zwar seinen Hund ausgeführt und die Wielands dabei auch eine Weile durch die Fenster hindurch beobachtet. Ich glaube aber, das war nur ein harmloser Spanner.“
Anna gähnte.
„Fahren Sie ruhig los, Frau Markisch, Sie müssen ja noch ganz bis nach Hamburg zurück. Die letzte Stunde übernehme ich allein.“
Zum ersten Mal, seit sie einander kannten, sah Sigrid Markisch ihre Kollegin Anna Greve freundlich lächelnd an. Anna lächelte
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