Liebeskind
angebracht gewesen wäre. Wie konnte so etwas überhaupt passieren? Gab es für die Bewohner dieses Heimes etwa keine eigenen Bereiche für die Intimpflege? Oder hatte sich die Frau möglicherweise nur in der Tür geirrt? Lebte sie vielleicht ebenso in ihrer eigenen Welt wie der Kobold, der früher einmal Vera gewesen war? Wenn man sich jedoch nicht mehr selbst versorgen konnte, hieß das gleichzeitig auch, keinen Anspruch mehr auf das zu haben, was den Menschen zum Menschen machte? Das Recht auf Privates, auf Intimes. Und wer setzte eigentlich die Grenze dafür fest? Armut war nie ein guter Begleiter, besonders im Alter nicht, dachte Elsa. Doch in einem war sie sich ganz sicher: Sie selbst würde sich einen solchen Einbruch in ihre Privatsphäre niemals gefallen lassen,auch nicht als Kobold. Sogar noch als Kobold hätte sie einer verirrten Besucherin in jedem Fall die Grenze aufgezeigt. So oder so, Elsa selbst würde niemals auf der Pflegestation eines Altersheims enden, sie verdiente Geld genug, um sich später einmal etwas Besseres leisten zu können. Sollte sie also Vera unterstützen, damit ihre Mutter angemessen sterben konnte? Angemessen sterben, wenn sie schon nicht angemessen gelebt hatte. Andererseits, was hatte Vera denn jemals für sie, für ihre Tochter Elsa, getan?
Nach dem Mittagessen stieg Doreen in ihr Auto, schnallte Martha hinten auf dem Kindersitz fest und fuhr davon. Sie nahmen die Straße in Richtung Hamburg, bogen dann allerdings nicht auf den Zubringer zur Autobahn ein, sondern fuhren in Richtung Harburg weiter. Doreen lenkte ihren Wagen in das Parkhaus über dem Einkaufszentrum, und wenig später betraten sie zusammen die weihnachtlich geschmückten Ladenpassagen. Doreen hielt Marthas kleine Hand fest in der ihren. Während sie an all den prächtigen Fensterauslagen vorbeigingen, sah Doreen sich immer wieder um. Wurden sie auch heute verfolgt? Doch selbst wenn irgendjemand sie beobachtete, war es Doreen inmitten dieser Menschenmenge unmöglich, ein einzelnes Gesicht, einen Menschen ausfindig zu machen, der sich verdächtig verhielt. Im Kaufhaus, das Doreen mit ihrer Tochter betrat, herrschte ein fürchterliches Gedränge, wie eben nur in der Vorweihnachtszeit. Zielstrebig steuerte sie einen Schmuckstand im Parterre des Kaufhauses an. So einen, an dem sich vor allem alte Frauen aufhielten und Horden kichernder Teenager. Eine grell geschminkte Verkäuferin stand mit eingeschaltetem Mikrofonhinter dem Verkaufsstand und pries die Supersonderangebote an, die, wie sie gerade verkündete, nur noch bis zum großen Fest gelten würden. Nun begann sie ihren Vortrag von Neuem. Die Menschentraube vor dem Verkaufsstand begann sich aufzulösen und gab Doreen und ihrer Tochter die Möglichkeit, einen Blick auf die Schmuckstücke in der Auslage zu werfen. Im untersten der Glasregale waren silberne und goldfarbene Kinderringe mit jeweils einem funkelnden Glasstein in den schönsten Bonbonfarben ausgestellt, dazwischen lagen dazu passende Ketten und Armbänder. Martha drückte ihre Nase an der Scheibe platt. Vor ihr lag ein kleiner, goldschimmernder Elefant. Auf dem Rücken trug er einen weißen Sattel, und zwischen seinen Augen funkelte ein hellblauer Stern.
„Mama, guck doch mal, wie schön der ist. Wie macht man den an?“
Doreen reagierte nicht, stattdessen wanderten ihre Augen weiter suchend über die Regale hinter der Scheibe, anschließend auch über die Ständer, die auf dem Verkaufstresen aufgebaut waren. Endlich entdeckte Doreen, wonach sie gesucht hatte. Nicht weit entfernt von ihr hingen grün emaillierte Anhänger in der Form von Kleeblättern, bestimmt an die zwanzig Stück. Jedes Kleeblatt war mit einer zarten Silberkette versehen und sah genauso aus wie der Talisman, den sie in ihrer Handtasche mit sich herumtrug. Doreen beugte sich zu Martha hinunter und lachte ihre Tochter erleichtert an.
„Was hast du gefragt, meine Kleine?“
„Wofür benutzt man den Elefanten, Mama?“
„Das ist eine Brosche, die trägt man am Pullover oder an der Jacke.“
„Kann dieser Elefant auch fliegen? Er sieht genauso aus wie der in meinem Buch.“
Marthas Wangen glühten. Für sie war das Messingtier mit der weißen Lackfarbe und dem blauen Glasstein der wunderschönste Schatz, den sie sich denken konnte. Und weil sie nicht fragte oder ihre Mutter bedrängte, ihr einen solchen zu schenken, hatte Doreen plötzlich große Lust dazu, genau das zu tun. Hand in Hand gingen sie anschließend in die
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