Liebeskind
Hinterteil.
„Ich glaube, ich bin doch ein wenig aus der Übung“, lachte er. „Wie wäre es mit einer kleinen Pause?“
Anna holte die Thermoskanne aus ihrem Rucksack heraus, goss den dampfenden Tee in zwei Becher und reichte Tom eine der Zimtschnecken hinüber, die sie vorhin im Einkaufszentrum mitgenommen hatten. Sie selbst nippte an ihrem Tee und steckte sich eine Zigarette an. Versonnen blickte Anna über die beinahe noch unberührte Eisfläche. Die einzigen Fahrspuren, die in die Eisfläche eingeritzt waren, stammten von ihnen beiden. Wenn sich das Wetter hielt, würde es hier morgen ganz anders aussehen, dachte sie. Für diesen Moment aber gehörte der See nur ihnen allein. Anna spürte, wie sich ein Kribbeln in ihrem Körper ausbreitete. Sie traute sich kaum noch, zu atmen. Hier und jetzt, genau in diesem Augenblick, war sie unbeschreiblich glücklich.
Wieder zu Hause angekommen, fand Anna zwei Schulhefte und einen von Ben geschriebenen Zettel auf dem Küchentisch liegen. Nachdem er seine Hausaufgaben erledigt hatte, war er zusammen mit Paul zum Eishockeyspielen an den kleinen Teich unweit ihres Hauses gefahren. Oben hatte Tom als Erstes die Badewanne mit heißem Wasser und einem großzügigen Schuss aus der Flasche mitder Melissenessenz gefüllt. Nun rief er von der Wanne aus nach seiner Frau, und Anna war schon auf dem Weg nach oben, als ihr Handy klingelte.
„Tut mir leid, wenn ich Sie gestört haben sollte, Anna, aber wir müssen sofort los. Sigrid Markisch hat mich gerade angerufen, sie sagte, in einem Waldstück zwischen Maschen und Horst sei eine Tote gefunden worden.“
„Muss das wirklich jetzt sein, Weber“, stöhnte Anna auf. „Dieser Fundort liegt doch überhaupt nicht in unserem Revier.“
„Das Gesicht der Toten ist verstümmelt worden, ich befürchte daher, dass der Mord sehr wohl in unseren Zuständigkeitsbereich fällt.“
„O. k., geben Sie mir eine halbe Stunde.“
Wenig später stieg Anna missmutig in ihren Dienstwagen. Sie hoffte, schnell wieder nach Hause zurückfahren zu können, schließlich war Wochenende, und außerdem wollte sie heute unbedingt noch einen Blick in Bens Schulhefte werfen.
Als sie sich kurz darauf jedoch über die junge Frau beugte, die tot und mit verstümmelter rechter Gesichtshälfte auf einem Feldweg in der Nähe von Maschen lag, spielten all ihre privaten Ärgernisse keine Rolle mehr.
„Woran ist sie gestorben?“, wandte sie sich an Dr. Schröter, den diensthabenden Arzt der Rechtsmedizin.
„Sieht ganz nach Tod durch Ersticken aus“, meinte er.
„Und die Gesichtsverletzung? Könnte die vielleicht auch durch einen Sturz entstanden sein?“, meldete sich Weber zu Wort. „Immerhin liegt in unmittelbarer Nähe der Toten ein Fahrrad.“
„Nein, das sieht mir eher nach einer Stichverletzung aus. So, als wäre dem Opfer ein Stück der Wange aus demGesicht herausgeschnitten worden. Außerdem hat die Wunde viel zu wenig geblutet, die Frau muss daher bereits tot gewesen sein, als ihr diese Verletzung beigebracht wurde.“
„Kennen wir schon ihre Identität?“, fragte Anna in die Runde.
Mit wichtiger Miene holte Sigrid Markisch einen in Plastikfolie eingeschweißten Personalausweis aus ihrer Tasche hervor und schwenkte ihn in der Luft.
„Den haben wir in der Innentasche ihrer Daunenjacke gefunden“, erklärte Weber. „Die Frau heißt Doreen Rost und wohnt hier ganz in der Nähe.“
„Gut, dann sollten wir zuerst einmal ihre Familie informieren. Die Kollegen von der Spurensicherung werden sowieso froh sein, wenn sie hier ungestört weiterarbeiten können.“
Kurz darauf machten die drei Kommissare vor einem gepflegt aussehenden Einfamilienhaus in einer schmalen Straße von Maschen, Ortsteil Horst, Halt. Drinnen bot sich ihnen ein trauriges Bild. Ein Mann um die vierzig saß, ein kleines Mädchen auf seinem Schoß wiegend, schweigend auf einem Holzstuhl in der Küche. Die weißhaarige Frau in den Siebzigern, die den Kommissaren kurz zuvor die Haustür geöffnet hatte, nahm nun das Kind in ihren Arm und ging mit ihm hinaus.
Arno Rost stand offensichtlich noch unter dem Schock, den die Nachricht über den Tod seiner Frau in ihm ausgelöst hatte. Anna Greve ignorierte Sigrid Markischs Bemühungen, sich über diese Tatsache hinwegsetzen zu wollen, und verließ den Raum. Aus dem oberen Stockwerk hörte sie eine Frauenstimme ein Kinderlied summen, alsoging Anna diesem Geräusch nach. Schweigend setzte sie sich zu der Alten und dem Mädchen
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