Liebeskind
nicht mehr.“
Als Elsa schließlich in ihren Wagen stieg und davonfuhr, winkte ihr das Mädchen noch lange hinterher. Kaum zu Hause angekommen, bestürmte Martha ihre Mutter Doreen.
„Mama, ich habe einen Schneemann gebaut.“
Marthas Wangen waren rot vor Kälte. „Einen ganz großen!“ Sie zeigte mit der Hand auf eine imaginäre Stelle hoch über ihrem Kopf.
Doreen schaute aus dem Fenster hinaus auf die unberührte Schneelandschaft des Gartens.
„Das ist toll, wo denn?“
Martha sah auf den Fußboden und schwieg.
„Willst du ihn mir nicht zeigen?“
Die Kleine stapfte an der Hand ihrer Mutter die Straße entlang. Hinter der Kurve, dort, wo die Grenze ihres Reiches lag, blieb sie stehen und zeigte geradeaus, auf den Rand der Wiese.
„Wie oft habe ich dir gesagt, dass es gefährlich ist, ganz allein so weit wegzugehen.“
Marthas Gesicht entspannte sich.
„Aber ich war gar nicht allein, Mama. Sabine hat mir ge holfen.“
Sie zog ihre Mutter weiter mit sich fort.
„Hier, das hat sie dem Schneemann geschenkt, damit er keine Angst hat im Dunkeln.“
Doreen betrachtete die Silberkette mit dem kleinen, grünen Kleeblatt. Sie öffnete den Verschluss und ließ die Kette in ihre Hand gleiten. Genauso einen Glücksbringer hatte sie als Kind auch einmal besessen. Doreen sah sich um. Auf einmal fühlte sie sich unbehaglich. Wurden sie etwa beobachtet?
„Wie hat die Frau denn ausgesehen, Martha?“
„Wie ein Engel, nur dunkler.“
„Was soll das heißen?“
„Na ja, sie hatte braune Sachen an, und Engel sind doch weiß.“
„Und wie sind ihre Haare gewesen?“
„Schön lang.“
„Und welche Farbe hatten sie? Waren sie so wie meine?“ „Nein, so!“
Martha zeigte auf den feuerroten Golf ihrer Nachbarin Frau Bohn von gegenüber.
„Und auch dunkel.“
10
Elsa an der Seeve, im Sommer 1986.
Elsa kauerte im Schatten hinter wild wucherndem Knöterich und rupfte Wiesenblumen aus der feuchten Erde nah am Fluss. Als die Blüten sterbend vor ihr auf einem Haufen lagen, begann sie, einen Kranz daraus zu winden. Das Lachen hinter der Hecke war leiser geworden. Vorsichtig bog sie einige Zweige auseinander und konnte gerade noch sehen, wie ihre Mitschüler auf ihre Fahrräder stiegen und in Richtung Dorf davonfuhren. Torsten hielt sich dicht neben Paula aus der Parallelklasse. Elsa spürte einen Mückenstich an ihrem Knöchel jucken, sie rieb etwas Spucke darauf. Dann band sie ihren Pullover um die Hüften und folgte den anderen in gebührendem Abstand. Paula fuhr mit wehenden Haaren immer neben Torsten her. Nein, Paula war wirklich keine graue Maus. Zum Glück sahen sie einander nur auf dem Schulhof, nicht auch noch während der vielen Stunden im Unterricht. Achtsam näherte sich Elsa der nächsten Kurve, als sie Torsten nebst Anhang plötzlich auf der roten Bank am Waldrand sitzen sah. Um sie herum die Räder im Gras. Rainer biss gerade in einen großen Apfel, den er anschließend Paula hinüberreichte. Torsten hatte es sich natürlich direkt neben ihr gemütlich gemacht und rauchte eine Zigarette. Zu gern hätte Elsa auch einen Apfel gehabt oder zumindest einen Schluck Wasser. Der Himmel hatte sich rot gefärbt, die Sonne war fast gänzlich hinter den Schönwetterwolken am Horizont verschwunden. Jetzt buken die Engelchen Kuchen im Himmel, die Abendbrotzeit war längst vorbei. Hoffentlich waren Robin und Miriam allein klargekommen. Immerhin hatte Elsa ihnen einen Zettel geschrieben und sogar noch den Tisch für sie gedeckt. Und wer bestimmte überhaupt, dass sie für die Pflichtversäumnisse ihrer Eltern aufzukommen hatte?
Mittlerweile war es dunkel geworden, und Elsa konnte den Abstand zu ihren Mitschülern verringern. Die Clique schlenderte vor ihr her durch die Siedlung. Torsten hatte seinen Arm um Paula gelegt, Rainer machte sich derweil an der Antenne eines Autos zu schaffen. Anschließend fuchtelte er mit der abgeknickten Metallstange vor den anderen herum.
„Lass doch den Kinderkram“, konnte Elsa Doreen rufen hören.
Davon unbeeindruckt nahm Rainer seinen Schlüssel aus der Tasche und verpasste dem blauen Golf am Straßenrand neben sich ein Muster an der lackierten Flanke. Danach zerrte er so lange am Stern auf der Kühlerhaube eines Benz herum, bis er ihn abgebrochen hatte, kniete sich mit seiner Trophäe vor Doreen in den Sand und sagte: „Hier, für dich.“
Doreen kicherte.
„Wer hat mal ’ne Kippe?“, fragte er anschließend weltmännisch in die Runde, doch ihre Vorräte
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