Liebeskind
waren schon seit einer Weile aufgeraucht. Zum Glück war es nicht mehr weit bis zum nächsten Zigarettenautomaten vor Meyers Bäckerei. Rainer stand vor der Kneipe in der Nebenstraße Schmiere, während Torsten wild, aber vergeblich auf den Automaten einschlug. Die anderen aus der Clique hatten sich an die gegenüberliegende Häuserwand gepresst und warteten kichernd.
„Lasst das mal eine Fachfrau erledigen, Jungs“, grinste Paula. Sie hatte geschickte Finger und darüber hinaus auch einen metallenen Hebel in ihrer Fahrradtasche. Paula knackte den Automaten, als hätte sie nie etwas anderes getan. Die anderen kamen herübergelaufen und klaubten die auf der Straße liegenden Schachteln auf, dann flohen sie an den Dorfteich. Torsten und Rainer hoben Paula hoch und wirbelten sie durch die Luft. Sie landete auf den Schultern von Torsten und hielt ihm die Augen zu, während er versuchte, sich mit seiner süßen Last auf eine Bank zu setzen. Elsa starrte in das grelle Licht der Telefonzelle gegenüber. Sollte sie jetzt die Schergen rufen und Paula verpfeifen? Verdient hätte sie es ja, so wie sie sich an Torsten und Rainer heranwanzte.
Doreen löste sich aus den Armen ihres Mannes Arno. Wenn sie nicht endlich damit aufhören würde, sich weiterhin im Bett herumzuwälzen, würde ihr Liebster bestimmt noch aufwachen. Doreen schlich auf Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer und in die Küche hinunter, um sich einen Schlaftrunk zu kochen. Die Standuhr im Flur schlug dreimal. Wenig später goss sie den heißen Kakao in einen Porzellanbecher und hielt noch einmal vor der Uhr inne. Doreens Augen streichelten Arnos kostbares Geschenk. Diese Uhr war sein Meisterstück gewesen, handgearbeitet nach einem Vorbild aus dem neunzehnten Jahrhundert. Jede Schnitzerei, jede Einlegearbeit hatte er originalgetreu nachgebildet. Zu ihrer Hochzeit hatte Arno ihr die Standuhr als Unterpfand seiner Liebe anvertraut. Seitdem war sie Doreens Talisman, und ihr wohlklingender dunkler Ton zur vollen Stunde hatte es noch immer fertiggebracht, Doreen aufzuheitern. Doch sosehr sie sich auch bemühte, zur Ruhe zu kommen, in dieser Nacht wollte es ihr nicht gelingen.
Doreen saß im Wohnzimmer und starrte in die Dunkelheit hinaus. Sie konnte das ungute Gefühl, dass irgendjemand sie beobachtete, einfach nicht verscheuchen. Vor ein paar Tagen hatte sie dieses Gefühl zum ersten Mal gehabt,und heute wieder, als sie mit Martha vor dem Schneemann gestanden hatte. Und jetzt? Hatte sich nicht gerade eben dort hinten im Garten neben der Tannenreihe etwas bewegt? Doreen kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, doch da war nichts außer der Spiegelung ihres eigenen Gesichts in der Fensterscheibe. Sie schaltete die Außenbeleuchtung im Garten an, nahm behutsam die grüne Strickjacke ihrer Mutter aus der Sofaecke und zog sie über. Irmgards Jacke war mit den Jahren an einigen Stellen, vor allem an den Ellenbogen, fadenscheinig geworden und verschlissen. Doch Doreen hatte diese Jacke schon als Kind gern getragen, vor allem dann, wenn sie sich krank gefühlt hatte oder traurig gewesen war. Früher hatte sie die Ärmel immer zweimal umschlagen müssen, mittlerweile war sie schon lange in sie hineingewachsen. Doreen tauchte mit ihrer Nase in den Jackenkragen und betrachtete die kleine Silberkette in ihrer Hand. Die Kette gehörte der fremden Frau, die an diesem Nachmittag mit Martha einen Schneemann gebaut hatte; Sabine hatte sie geheißen. Eigentlich hatte Sabine ihrer Tochter Martha eine wunderbare Geschichte erzählt. Da gab es einen Schneemann, der sich im Dunkeln fürchtete, aber den man mit einem Talisman beschützen konnte. Kinder liebten Geschichten. Besonders solche, in denen Magie vorkam. Was aber, wenn sich diese Frau damit nur in Marthas Herz hatte schleichen wollen? Seit Doreen eine Familie hatte, verstand sie, was es hieß, sich Sorgen zu machen. Ständig sorgte sie sich um ihre Tochter und auch um Arno, wenn er für längere Zeit geschäftlich unterwegs war. Es gab so viele Gefahren, übermüdete Lastwagenfahrer oder fremde Frauen, die kleine Mädchen entführten. Die zarte Silberkette lag noch immer in Doreens Hand. An den Rändern des grün emailliertenKleeblattes war die Farbe abgestoßen, wahrscheinlich war es ziemlich alt. Genauso eine hatte Doreen ihrer Freundin Elsa damals zum Geburtstag geschenkt. Vielmehr hatte Irmgard gemeint, man müsse Elsa eine besondere Freude machen. Doreen hatte das übertrieben gefunden. Vielleicht, weil Elsa
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