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Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)

Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Mischke
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schwer ich an diesem Verlust trage …
    Doch auch dieser Brief landete im Papierkorb. Zu ihrer Bestürzung fing sie nun auch noch an zu weinen. Wo, zum Teufel, war nur ihre Fähigkeit zu emotionaler Distanz geblieben, die sie über die Jahre scheinbar so perfekt kultiviert hatte?
    An Heiligabend berichteten alle lokalen Nachrichtensender über die spektakuläre Flucht eines Häftlings aus der JVA Hannover. Der Mann hatte den Hofgang benutzt, um über einen Blitzableiter auf ein Dach zu klettern, dann über das Flachdach zu laufen, sich abzuseilen und auf die Straße zu fliehen. Andere Häftlinge hatten die Aufsichtsbeamten durch einen falschen Alarm abgelenkt.
    Mathilde hörte die Meldung auf der Fahrt nach Ricklingen. Sie hielt den Wagen an einer Bushaltestelle an. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie drückte hektisch auf den Tasten des Radios herum. Auf NDR 1 wurde die Nachricht gerade erst verlesen. Der Sprecher erwähnte, daß es sich bei dem Geflohenen um einen Mörder handelte. Einen Türken.
    Mathilde wechselte wieder zum Kultursender, fuhr weiter und bereitete sich auf den traditionellen Heiligabendkrach mit Franziska vor.
    »Frau Tiffin, der Gefangene Lukas Feller möchte Sie sprechen.«
    Die Knöchel der Hand, mit der sie den Telefonhörer hielt, wurden weiß.
    »Was will er?«
    »Das wollte er mir nicht sagen«, antwortete der Vollzugsbeamte. »Soll ich mit ihm vorbeikommen?«
    »Nein«, erwiderte Treeske rasch. »Ich komme zu Ihnen. Ich habe sowieso noch was in Haus drei zu erledigen. Wenn es Ihnen recht ist«, fügte sie hinzu.
    »Natürlich«, sagte der Bedienstete, der froh war, nicht mit dem Gefangenen auf Tour gehen zu müssen.
    »Er soll in zehn Minuten vor dem Stationszimmer warten.«
    Sie ließ sich absichtlich Zeit, ging zur Toilette, wusch sich lange die Hände mit kaltem Wasser und legte sie an Wangen und Nacken. Vorsichtig hob sie den Blick. Spiegel waren immer gefährlich. Sie betrachtete ihr Gesicht: bleich wie Ophelia.
    Seit dem Treffen in ihrem Büro waren über drei Monate vergangen. Inzwischen behielt sie die meisten Mahlzeiten wieder bei sich, und sicherlich würden auch irgendwann dieses Gefühl des Überdrusses und diese lähmende Mattigkeit wieder verschwinden. So wie Peter aus ihrem Leben verschwunden war.
    »Du bist eine völlig andere Person geworden, als hätte man dich ausgetauscht«, hatte er beklagt – an Weihnachten, dem traditionellen Anlaß zur Krisenverschärfung. Sie hatte ihm nicht widersprochen. An Silvester hatte er seine Sachen abgeholt.
    Das wird schon wieder. Nur nicht gleich.
    Es wurde jede Nacht sehr spät, ehe sie ins Bett ging. Sie fürchtete sich vor dem Schlaf. Der Traum von den Augen war zurückgekehrt. Diese Augen, die glasig waren wie Silberzwiebeln und ins Nichts starrten, bevor eine grünschillernde Fliege aus der viel zu weiten Augenhöhle kroch, sich ihre Flügel putzte und auf demselben Weg wieder im Inneren des haarlosen Kopfs verschwand. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr verfolgte sie dieses Bild, und es würde sie vermutlich bis ans Ende ihres Lebens verfolgen, in Träumen und Tagträumen. Es gab keine Droge, die es verscheuchen konnte. Sie hatte alle ausprobiert.
    Treeske kramte in ihrem Schminktäschchen und bemalte ihre Lippen blutrot. Plötzlich war er da. Hinter ihr, sie sah ihn im Spiegel. Er lehnte an der Wand, die Hände in den Hosentaschen, seine James-Dean-Pose. Ihre Müdigkeit war mit einem Schlag weg, jetzt war sie hellwach. Sie widerstand der Versuchung, sich umzudrehen und ihn anzusprechen. Nein, so weit, daß sie mit ihren Trugbildern redete, würde sie es nicht kommen lassen. Intrusionen hießen derlei Erscheinungen im Psychologenjargon. Seelenbilder. Sie hatte gelernt, wie man ihnen begegnete – mit Ignoranz. Doch wie sie sich abstellen ließen, wußte sie nicht.
    Sie legte ein wenig Rouge auf und nahm noch eine ihrer Gute-Laune-Pillen. Dann ging sie hinaus, ohne sich umzusehen.
    Zwanzig Minuten später betrat sie die Station. Lukas Feller hatte warten müssen. Der Bedienstete öffnete ihnen die Tür zum Stationszimmer, ließ die Tür offen und blieb in Sichtweite stehen. Sie setzten sich einander gegenüber. Treeske faltete die Hände und verknotete ihre Beine unter dem Tisch. Nur für den Fall, daß sie zitterten.
    »Was willst du?«
    »Meine Mutter ist gestorben.«
    »Mein Beileid.«
    »Ich möchte zu ihrer Aussegnung und vorher zum Einkaufen.«
    »Zum Einkaufen ?« wiederholte sie, als hätte sie nicht recht verstanden.
    »Ich

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