Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
Mathilde in dem weißen Berg kaum noch zu sehen.
Sie stießen auf Leonas Einzug an, und nach einigen Runden um den heißen Brei herum sagte Mathilde: »Die Gerüchte sind sicherlich schon bis zu dir vorgedrungen, trotz der Herbstferien.«
Leona nickte. »Klar. Du kennst ja die lieben Kollegen. Einige haben nur darauf gewartet, daß du mal eine Angriffsfläche bietest. Aber jetzt sag mal …« Leona beugte sich so weit zu Mathilde hinüber, daß sie vom Klodeckel zu stürzen drohte. »Hast du diesen Mann tatsächlich geküßt?«
Roth junior hatte offenbar kein Detail ausgelassen. Mathilde hielt sich die Nase zu und tauchte unter. Stundenlang, dachte sie, könnte ich so liegen bleiben, wie eine Muschel auf dem Meeresgrund. Leider spielten ihre Lungen dabei nicht mit. Kaum war sie wieder an der Oberfläche, hörte sie durch das Wasser in ihren Ohren Leona: »Jetzt sag schon. Ist er wirklich ein Mörder?«
Der erste Schultag nach den Ferien war unangenehm. Mathilde war, als würden alle über sie tuscheln, und die Schüler schienen aufmüpfiger als sonst. Im Pausenhof meinte sie das Wort Knastjule hinter ihrem Rücken zu hören.
Am Abend rief Lukas an.
Mathilde, die seinen Anruf gleichermaßen herbeigesehnt und gefürchtet hatte, schilderte ihm die Lage: »… und der mißratene Sprößling meiner Kollegin Roth hat mich im Besuchsraum erkannt und nichts Besseres zu tun gehabt, als seiner Mama meinen letzten Besuch in den buntesten Farben zu schildern.«
»Das ist ärgerlich«, sagte Lukas wütend und klang auch so. »Ich werde mich um ihn kümmern.«
»Zu spät«, entgegnete Mathilde.
Schweigen trat ein und dehnte sich ins Unerträgliche.
»Ich denke, wir sollten uns eine Weile nicht sehen«, sagte Lukas dann. »Sie sollen meinetwegen keine Schwierigkeiten bekommen.«
Eine kalte Klaue griff nach ihrem Herz. Sie begann zu frösteln. Hätte sie doch nur geschwiegen. Nein, schrie eine Stimme in ihr‚ nein, nein, nein! Aber sie war außerstande, das Wort über die Lippen zu bringen.
»Ja, das wäre vielleicht das beste«, antwortete sie schließlich.
»Bis irgendwann, Mathilde.«
Sie legte das Telefon aus der Hand. Ohne Vorwarnung quollen ihr die Tränen aus den Augen.
Lukas hängte den Hörer ein. Zornig preßte er die Kiefer aufeinander bis seine Zähne schmerzten.
Ein Häftling strich um ihn herum. »Bist du fertig?« fragte der Mann. »Kann ich auch mal?«
»Verpiß dich«, zischte Lukas, bevor er Platz machte und zurück in seine Zelle ging. Alles war so glatt gelaufen, und jetzt drohte sie ihm zu entgleiten. Hatte er eben richtig gehandelt?
Wenn du schnell ans Ziel kommen willst, mach einen Umweg, lautete ein chinesisches Sprichwort. Hoffentlich wußten die Chinesen, wovon sie redeten.
Mathilde und Leona fuhren neuerdings zusammen zur Schule. Inzwischen hatte Mathilde Lauda den Porsche zurückgebracht und ihren Golf wieder, was Leona bedauerte. Die Uhren waren auf Winterzeit gestellt, und die Fußgängerzone erstrahlte in kommerziellem Lichterglanz. Mathilde graute es, wie jedes Jahr, vor der Weihnachtszeit und dem Winter überhaupt. Gelegentlich schaute sie abends aus dem Fenster hinab auf den Gehweg gegenüber, aber den verdächtigen Mann sah sie nicht mehr. Schade eigentlich, dachte Mathilde, denn sie hatte schon für seinen nächsten Auftritt eine große Maglite -Taschenlampe griffbereit auf das Fensterbrett gelegt.
Kein Haß-Anruf folgte mehr, und Lukas rief ebenfalls nicht mehr an. Sie ertappte sich, wie sie minutenlang das Telefon anstarrte und dreimal am Tag in den Briefkasten schaute. Alles nur Einbildung, sagte sie sich. Brünstige Wunschvorstellungen einer angehenden alten Jungfer. Ihm lag nichts an ihr, hätte er sie sonst so rasch ziehen lassen? Ob er ersatzweise die Beziehung zu dieser Claudine reaktiviert hatte, kam es Mathilde in einem Moment kindischer Eifersucht in den Sinn.
Am Wochenende wollte sich Florian bei ihr einladen, doch Mathilde war nicht danach, und sie sagte ihm ohne Begründung ab.
Auch der Ritter der Kelche hatte sich zurückgezogen. Nachdem Mathilde nicht zum Schumann-Konzert erschienen war und in der Folge auch Beethoven verschmäht hatte, fand sie im nächsten Umschlag das Taschentuch, das sie ihm vor zwei Jahren im Konzertsaal gegeben hatte. Es war gebügelt und ein kleiner Zettel lag dabei: Ich weiß, daß man in der Liebe keine Fragen stellen darf, wenn man Antworten haben will. Ich warte. S.
Er tat Mathilde leid, aber sie konnte nicht anders. Sie wollte
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