Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
Kontrolle am Morgen leblos in seiner Zelle gefunden worden, teilte die Anstalt mit. Ein Arzt habe nur noch den Tod feststellen können. Eine Obduktion der Leiche wurde angeordnet. Der Häftling habe vorher weder über gesundheitliche Probleme geklagt noch um ärztliche Hilfe gebeten. Der vorbestrafte Mann saß wegen Drogenhandels und Fahrens ohne Führerschein seit einigen Monaten im Gefängnis. Er wäre im Juli entlassen worden.
»Mathilde«, zischelte es durchs Treppenhaus. Sie drehte sich um.
Leona war im Bademantel, ihr Haar rankte sich medusenhaft um ihren Kopf.
»Der Sohn von der Roth ist tot«, flüsterte sie.
»Ach.«
»Er ist im Gefängnis an einer Überdosis gestorben, es steht in der Zeitung.«
»Na, dann. Beeil dich, sonst bist du nachher wieder nicht fertig«, mahnte Mathilde und ging weiter. Es brachte sie auf die Palme, wenn Leona nicht Punkt 7:15 vor der Garage stand.
Oben las sie den Artikel noch einmal, und ein absurder Gedanke ging ihr dabei durch den Kopf: Er hat für mich getötet.
Komm wieder auf den Teppich, Mathilde!
Sie blätterte weiter zu den Todesanzeigen. Heute füllten sie eine ganze Seite, aber eine fiel ihr sofort ins Auge.
Warum bist du gegangen?
Claudine Damaschke
14.4.1980 – 25.10.2004
Untröstlich
Deine Eltern, Renate und August Damaschke
sowie dein Bruder Ronny
Ein Zufall. Es konnte nicht sein, daß diese Claudine in derselben Woche starb wie der Sohn der Roth. Wie hieß der überhaupt mit Vornamen? Noch dazu ausgerechnet an dem Tag, an dem sie abends mit Lukas telefoniert hatte.
Warum bist du gegangen?
Also ein Selbstmord.
Hatte Lukas am selben Abend noch diese Claudine angerufen? Was muß man einem Menschen sagen, damit er sich umbringt? So einer hysterischen Gans bestimmt nicht viel, dachte Mathilde. Und Lukas Feller würde sicherlich die richtigen Worte finden.
Aber es konnte auch eine andere Claudine sein. Hießen nicht viele junge Frauen Mitte Zwanzig Claudine? Claudine war bestimmt ein Modename aus den frühen Achtzigern. Mathilde stand auf, ging ins Bad und verscheuchte ihren Verdacht mit viel Föngetöse.
Leona war pünktlich. Diese Woche war sie mit Fahren dran, und als sie in ihrem Fiat saßen, sagte sie: »Meinst du, er war es?«
»Wer war was?«
»Dein Häftling. Vielleicht hat er Felix Roth umgebracht.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Vielleicht hat er Rache genommen, weil du durch den Kerl Schwierigkeiten bekommen hast.«
»Leona, red keinen Stuß! Es kommt öfter vor, daß Häftlinge an Drogen sterben.«
Sie schwiegen für den Rest der Fahrt, erst als sie sich dem Gründerzeitgebäude näherten, fragte Mathilde: »Was meinst du, muß ich der Roth kondolieren?«
Am Mittwoch stand in der Zeitung, daß der Häftling Felix R. an einer reichlich bemessenen Dosis ungewöhnlich sauberen Heroins gestorben war. Die Justizministerin sei bestürzt. Eine gründliche Untersuchung des Falles – unabhängig von den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft – wurde angeordnet. Der Rest des Artikels behandelte das Problem der Drogen im Vollzug, dem offenbar in keiner JVA nachhaltig beizukommen war.
Na also, dachte Mathilde, die Wahrheit ist doch meistens recht banal.
Was blieb, war eine kleine, uneingestandene Diskrepanz zwischen der offiziellen Wahrheit aus der Zeitung und Mathildes gefühlter Wahrheit.
Aber selbst wenn er es gewesen war, grübelte sie, wäre das so schlimm?
Dieser Felix Roth hatte sich leicht ausrechnen können, daß er Mathilde, wenn er seiner Mutter von ihrem Besuch erzählte, in Schwierigkeiten bringen würde. Klatschsucht und Bosheit waren also seine Motive gewesen. War es um so einen Menschen schade? So sehr sie in ihrem Gewissen auch forschte, sie konnte kein aufrichtiges Mitgefühl für ihn aufbringen. Eher schon Verständnis für Lukas, falls er etwas damit zu tun haben sollte. »Im Knast gelten die Gesetze des Dschungels«, hatte er einmal gesagt.
Seit ihrem letzten Telefonat am Ende der Ferien hatte er nicht mehr angerufen und auch nicht geschrieben. Mathilde hatte einen Brief aufgesetzt, in dem sie ihm ihre Gründe noch einmal darlegte, aber gegen Ende des Schreibens hatte sie das Blatt zerrissen. Franziska hatte recht. Sie war opportunistisch, gesinnungslos, angepaßt, feige.
Zur Weihnachtsdepression gesellte sich in diesem Jahr ein ordentlicher Schuß Selbstverachtung.
Sie schrieb noch einmal an ihn. Ich habe Sie durch mein Verhalten gekränkt und verloren, aber ich möchte wenigstens, daß Sie wissen, wie
Weitere Kostenlose Bücher