Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
war ein markanter Bau aus dem Jahr 1935, dessen gewölbtes Dach an eine gekenterte Arche erinnerte. Am vorderen Giebel ragte ein schlichtes Kreuz in den Himmel, wie ein mahnender Schwurfinger.
Vor dem Eingang zur Kapelle standen schwarz gekleidete alte Frauen und erinnerten an eine kleine Krähenschar. Nur eine wirkte etwas jünger, sie trug einen eleganten Hut auf dem rötlichen Haar. Dem Anschein nach waren die älteren Frauen hauptsächlich gekommen, um den Sohn der Verstorbenen zu beäugen. Klageweiber, Totenvögel dachte Mathilde.
Lukas Feller war in Begleitung zweier Bewacher da. Es waren nicht die aus der Arztpraxis, sondern größere Männer, mit einem Kreuz so breit wie ein Türrahmen.
Sein schwarzer Mantel wirkte neu und teuer, die Ärmel verbargen die Handschellen. Mathilde trug zu ihrem Cape einen schwarzen Kapotthut mit einem winzigen Schleier. Sie hatte in der Nähe gewartet und war als letzte zu der Trauergesellschaft gestoßen. Als er sie sah, blieb er reglos zwischen seinen Wächtern stehen. Allein mit einem Lächeln und einem Blick umarmte er sie.
In der Kapelle saß Mathilde schräg hinter Lukas und konnte ihn über einen hexenartigen Altweiberkopf hinweg anschauen. Es war ein neues Gefühl, ihn betrachten zu können, ohne sprechen zu müssen. Wie eingefroren saß er aufrecht da und erduldete die Trauerfeier, die von einer sehr jungen Pastorin geleitet wurde. Sein Blick saugte sich an einer der beiden Kerzenpyramiden fest und blieb dort haften. Es sah aus, als meditierte er, und Mathilde begehrte ihn so heftig, daß sie das Gefühl hatte, als würde etwas in ihrem Inneren auseinandergerissen.
Die schlichte Zeremonie dauerte nur zwanzig Minuten. Zuerst sprach die Pastorin von einem entbehrungsreichen Leben und zahlreichen Prüfungen. Dann erklang Orgelmusik, und die Schar der Totenvögel stimmte in einen kläglichen Gesang ein, der sich fadendünn und zäh durch den hohen Kirchenraum zog. Mit dem Segen stoben sie ins Freie. Wahrscheinlich um dem einzigen Hinterbliebenen nicht kondolieren zu müssen.
Begleitet von seiner Eskorte ging Lukas an Mathilde vorbei. Sie tauschten einen flüchtigen Blick aus. Ob sie noch Gelegenheit haben würde, mit ihm zu sprechen? Oder sollte sie nur für dieses eine Lächeln hergekommen sein?
Mathilde verließ die Kapelle. Die Krähen hatten sich, wie erwartet, sogleich zerstreut, und es versammelte sich bereits die nächste Trauergesellschaft, die deutlich größer war. Die drei Männer standen etwas abseits. Sie sah Lukas einige Worte mit der Pastorin wechseln, die ihm zum Abschied die Hand drückte. Der Stahl der Handschellen blitzte auf. Jetzt diskutierte Lukas mit seinen Bewachern. Mathilde schnappte die Worte »nicht abgesprochen« und »Verantwortung« auf. Am Ende schien sich Lukas jedoch durchgesetzt zu haben. Die drei Männer wandten sich um, und ein kurzer, auffordernder Blick von Lukas bedeutete Mathilde, ihnen zu folgen. Sie gingen über den Friedhof. Passenderweise nieselte es. Mathilde mochte Friedhöfe, früher hatte sie jeden Sonntag Merles Grab auf dem Ricklinger Friedhof besucht, um mit ihren Knochen zu sprechen. Inzwischen tat sie das nur noch sporadisch.
Sie folgte den dreien in vorsichtiger Distanz. Vor einem grauen Quader mit verblassenden Goldbuchstaben blieben Lukas und die Aufsichtsbeamten stehen. Der Efeu war an den Kanten abrasiert, in der Mitte der Grabstätte stand eine Tonschale mit vertrockneten Chrysanthemen.
Aber Lukas Feller bedachte die letzte Ruhestätte seines Vaters nur mit einem kurzen Blick. Statt dessen wandte er sich sofort um zu Mathilde, die sich ihm langsam näherte, bei jedem Schritt darauf gefaßt, von seinen Bewachern aufgehalten zu werden. Aber nichts geschah, im Gegenteil, die beiden vergrößerten vielmehr ihren Abstand zu dem Gefangenen.
Mathilde blieb zwei Schritte vor Lukas stehen.
»Daß du hier bist …«, sagte er.
Ihre Blicke verwoben sich.
»Du hast mir noch nicht gesagt, was du auf deinen Grabstein schreiben würdest.«
Wie ein Suchscheinwerfer huschte sein Blick über die Gräber, als müsse er sich dort einen Spruch aussuchen, bevor er kurz an einer Gestalt hängen blieb, die einen Steinwurf entfernt vor einer Zypresse stand und zu ihnen herübersah. Dann schaute er wieder Mathilde an und sagte: »Am liebsten wäre mir, man würde meine Asche im Wald verstreuen.«
»Das ist in Deutschland nicht erlaubt.«
»Komm her«, sagte er leise.
Mathilde trat noch einen Schritt näher an ihn heran. Die
Weitere Kostenlose Bücher