Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
Blumenschmuck hatten wir kein Geld. Sie haben den Mann einfach liegenlassen. Er hätte vielleicht überlebt, wenn sie ihm geholfen hätten. So ist er auf der Blumenauer Straße verblutet. Aber es gab Zeugen. Am Morgen wurden dein Vater und sein Freund verhaftet.«
»Warum hat er die Apotheke überfallen?«
»Angeblich hatte er Schulden bei Leuten, bei denen man besser keine hat. Er ist noch einmal aufgetaucht, 1971, als er rauskam. Da betrieb er eine mobile Bettfedernreinigung in der Nordstadt. Ich habe ihn auf Alimente verklagt. Dann war er plötzlich ganz verschwunden.«
Es fiel Mathilde schwer, ihre aufsteigende Wut zu zügeln. Zweiundvierzig Jahre lang hatte Franziska sie in dem Glauben gelassen, ihr Vater hätte es seinerzeit vorgezogen, sich um schwarze Kinder auf fernen Kontinenten zu kümmern, anstatt um sein eigenes. Am meisten schmerzte dabei, daß auch Merle die Lüge mitgetragen hatte.
»Also stimmt das gar nicht, daß er sich als Entwicklungshelfer verdrückt hat.«
»Nein. Er hat sieben Jahre gesessen. Und eines sage ich dir«, sagte sie und schüttelte prophetisch die rechte Faust mit dem ausgestreckten Zeigefinger. »Sie sind nicht geläutert, wenn sie aus dem Knast kommen. Ganz im Gegenteil.«
Mathilde ging hinaus und schloß leise die Tür hinter sich, als würde sie ein Krankenzimmer verlassen. Franziska blieb sitzen wie eine Puppe, die jemand vergessen hat.
Sie einigten sich auf den 21. März, den Montag nach Frühlingsanfang. Zufällig war es auch der erste Tag der Osterferien. Es war Lukas’ Idee gewesen: »Von diesem Tag an wird es in meinem Leben bergauf gehen«, prognostizierte er. Bis dahin besuchte ihn Mathilde einmal pro Woche für eine halbe Stunde. Und sie schrieben sich:
Liebste Mathilde,
ich denke mir einen Spaziergang im Schnee mit Dir, nachts am Polarkreis, im blauen Licht, das auf den Schnee fällt. Eine Kerze leuchtet im Fenster, drinnen ein Ofen, in dem schwere Scheite brennen, draußen schneit es ohne Unterlaß, am nächsten Morgen laufen wir zum zugefrorenen See, die Wangen rot vor Kälte und von der Nacht. Und an Silvester gibt es ein Feuerwerk auf dem See, alle trinken und wünschen sich Glück, wir sind berauscht und dann wieder allein, nur das Knakken der Scheite im Feuer und das Schlagen unserer Herzen, und draußen fällt lautlos der Schnee. So wünsche ich mir einen Winter mit Dir, so müßte es immer sein, ein Leben lang.
Lukas.
Bei ihrer Korrespondenz handelte es sich weniger um konventionelle Briefe, als um die Beschreibung vom Alltag losgelöster Bilder und Träume, immer voller Sehnsucht nach dem Unerfüllten. Konsequent verleugneten sie ihre Lebensumstände und bauten Luftschlösser.
Natürlich gab es schlimme Nächte, aber am Morgen, wenn die Sinne wieder klar waren, mußte Mathilde – wenn auch nur ungern – zugeben, daß Franziska gar nicht so Unrecht hatte. Es war schön zu wissen, daß es jemanden gab, der für einen da war. Eine ständige physische Präsenz war dafür allerdings nicht notwendig.
Die Kanzlei Nössel & Rübesam lag im ersten Stock eines repräsentativen Gebäudes auf der Lister Seite der Eilenriede. Hugo Nössel hatte gerade den letzten Mandanten dieses Vormittags verabschiedet und freute sich auf einen kleinen Spaziergang im Stadtwald. Sein Kompagnon war bestimmt schon längst beim Mittagessen, aber Hugo Nössel hatte sich vorgenommen, ein wenig abzuspecken.
Die Sekretärin klopfte, öffnete die Tür zu seinem Büro und meldete eine Dame, unangemeldet.
»Soll sich einen Termin geben lassen«, brummte Nössel.
»Sie sagt, wenn sie jetzt nicht drankommt, weiß sie nicht, ob sie sich noch mal herwagt.« Die Sekretärin kommentierte die Worte mit einer Wischbewegung vor ihrem Gesicht. »Es geht um den Fall Lukas Fellheim, soll ich ausrichten.«
»Fellheim? Nie gehört.«
»Lukas Feller «, berichtigte eine heisere weibliche Stimme. Die Frau war hinter die Sekretärin getreten.
»O bitte …«, protestierte die Sekretärin und baute sich in der Tür auf, als gälte es Leib und Leben ihres Chefs zu verteidigen.
»Ist schon gut«, besänftigte Nössel sie. »Kommen Sie herein, Frau…
»Koch. Anja Koch, geborene Machowiak.«
Anja Machowiak. Wichtigste Zeugin im Mordfall Petra Machowiak – ihrer Schwester – fiel es Hugo Nössel ein. Er hätte sie nicht wiedererkannt. Er hatte sie wohlproportioniert und mit dünnem blonden Haar in Erinnerung, aber die Frau, die nun vor ihm stand und keuchend atmete, hatte wuschelige,
Weitere Kostenlose Bücher