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Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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Umgebung gibt. Wenn ich ihn zu den Wohnungen seiner neuen Freunde bringe, deren Zahl sich mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit vergrößert, versuche ich gleich nach meinem Eintritt Näheres über die familiären Verhältnisse herauszubekommen, ich plaudere mit der Mutter und bewundere die Wohnungseinrichtung, bloß damit ich ein wenig herumlaufen und nach Hinweisen suchen kann, ich schaue mich schnell um, suche nach Spuren eines Mannes, manchmal ist es ein Paar Sandalen, das in einer Wohnzimmerecke steht, ein Jackett, das an der Garderobe hängt, ein andermal der Geruch von Rasierwasser. Manchmal sagen die Frauen es von selbst, mein Mann ist bei der Arbeit, mein Mann ist im Ausland, mein Mann ist beim Reservedienst, oder es erscheint zu meinem Verdruss auch der Ehemann selbst, dann verabschiede ich mich schnell, bleibe weiterhin ohne Komplizin, und in jedem Haus sehe ich auf der Schlafzimmertür das bunte Plakat, das ist das Zimmer von Papa und Mama, aber nur bei uns zittern die Buchstaben wegen der Täuschung. So folge ich meinem Sohn von Wohnung zu Wohnung, prüfe jene Familien aus der Nähe, die ich zum ersten Mal bei der Feier zum Empfang des Schabbat gesehen habe, und versuche abzuschätzen, wie groß die Chancen dieser Paare sind, zusammenzubleiben, lasst euch schon scheiden, murmle ich, warum klebt ihr aneinander, trennt euch ein bisschen, was macht es euch schon aus, dann hätte Gili einen Leidensgenossen, dann wäre er nicht die einzige Ausnahme, der Gedanke bedrückt mich, dass all diese Kinder, egal ob groß oder klein, hellhaarig oder dunkel, ruhig oder laut, verwahrlost oder gepflegt, das haben, was mein Sohn schon nicht mehr hat, nämlich eine Familie.
    Und nachts wache ich entsetzt auf, mit dem Gefühl, dass das ganze Bett samt Kissen und Decken und Matratzenfedern lautstark auf mein wie verrückt klopfendes, rebellierendes Herz antwortet, ich habe eine Familie begraben. Ich selbst, höchstpersönlich, habe eine Familie begraben. Es stimmt, es war eine Familie, die ich nicht besonders liebte, eine Familie, die mehr Probleme als Kinder hervorbrachte, mehr Streit als Nächte der Lust, mehr Enttäuschung als Freude, doch reichen diese Gründe wirklich aus, die Gutenachtgeschichten gefährden mich, nicht ihn, das Plakat auf der Tür bedroht mich, nicht ihn, die leeren Regalfächer stören meine Augen, nicht seine, es geht ihm gut, Papa, es geht ihm gut, er wird nicht ausgelöscht werden, aber was ist mit mir?
    Er hat sich gegen unsere Trennung, die ihm aufgezwungen wurde, nicht gewehrt, aber gegen jeden anderen Zwang wehrt er sich mit aller Kraft, mit einer Dickköpfigkeit, die ich nicht an ihm kenne, die erst in diesem Herbst geboren wurde, sechs Jahre nach seiner eigenen Geburt. Er weigert sich, morgens aufzustehen, er weigert sich, schlafen zu gehen, sich zu waschen, sein Zimmer aufzuräumen. Wenn seine vielen neuen Freunde ihn besuchen, ist er fröhlich und strahlend, aber sobald sie gegangen sind, zeigt er mir ein zorniges Gesicht, und ich betrachte ihn zögernd, voller Angst, seinen Ärger zu wecken, während ich früher, in der Zeit der Familie, ungeduldig darauf wartete, dass die Eltern seines kleinen Freundes ihren Sohn abholten, damit wir vor dem Schlafengehen selbst noch Zeit zum Spielen und zum Reden hätten. Sobald die Tür hinter dem kleinen Jungen zugefallen war, der meistens heulte, wenn er geholt wurde, und unwillig nach seiner Mutter schlug, umarmte mich mein Sohn und zwitscherte mit seiner glücklichen Vogelstimme, zog mich auf den Teppich, um mit mir zu spielen, oder zum Sofa, um sich auf meinen Schoß zu setzen, oder zum Ranzen, um ein Bild hervorzuziehen, das er gemalt hatte, und ich, verzaubert von seinem Charme, hingerissen von dem klangvollen Geplapper, gab mich der verborgenen Quelle hin, von deren Existenz ich nichts gewusst hatte, sehnte mich nach nichts anderem, ich wollte immer nur diese Nähe, die vollkommener war als alles andere. Jedes Wort, das ihm über die Lippen kam, liebte ich, sein warmes Lachen, seine Spucke, die kleinen Muttermale auf seinen Wangen, seine Berührung, und nun, da er mir ein zorniges Gesicht zeigt, lasse ich schweigend das Badewasser ein und frage mich, was in Zukunft von dieser Liebesgeschichte bleiben wird, von der ich nie geglaubt hätte, sie würde einmal zu Ende gehen, die eigentlich dazu bestimmt war, so oder anders mein ganzes Leben lang zu dauern.
    Morgens wacht er müde und zornig auf, reibt sich die vom Schlaf verklebten Augen, schaut

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