Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
und inzwischen sah ich, wie er die Hand aus der Tasche zog und die Tür aufschloß und schnell mit seinen Tüten verschwunden war, wie ein Zwerg in einer Süßigkeitenpackung, und ich wußte, das war’s, ich muß jetzt gehen und ein weiteres Rätsel hinter mir lassen. Sie sah mich mit ihren hellen Augen an und sagte, ist er gekommen? Und ich sagte, ja, aber vielleicht warte ich noch ein paar Minuten, damit er Zeit hat zu pinkeln, so ein schlimmer Satz rutschte mir raus, warum ausgerechnet pinkeln, aber sie lächelte mich verständnisvoll an, und ich wunderte mich, wieso ihr das alles ganz natürlich vorkam, mir kam überhaupt nichts natürlich vor, und ich fragte sie, was meinst du, ein Baby, das am Tischa-be-Aw geboren wird und an Chanukka stirbt, zündet man da Kerzen an oder nicht, und ich sah, wie ihr Lächeln verschwand, und es tat mir sofort leid, und ich fragte, wie heißt dein Junge, als könne die zweite Frage die erste auslöschen, aber sie war schon mißtrauisch geworden, warum fragst du das, und ich sagte, ich würde gerne mal auf ihn aufpassen, wenn du einen Babysitter brauchst, ich bin verrückt nach Babys, was natürlich nicht stimmte, aber ich mußte dieses Kind unbedingt noch einmal sehen, und sie sagte, in Ordnung, ich werde dich anrufen, aber sie fragte nicht nach meiner Telefonnummer, und ich ging hinaus, stellte mich vor die Tür gegenüber und klingelte, erst kurz, dann lang, aber die Tür wurde nicht geöffnet.
Ich hörte keine Schritte auf der anderen Seite und ich sah kein Licht, alles blieb still, und hätte ich ihn nicht mit eigenen Augen eintreten sehen, wäre ich überzeugt gewesen, daß niemand zu Hause war. Ich stand da und dachte, daß Joséphine diese Tür nicht mehr sehen würde, nicht das runde Guckloch und nicht das Schild, auf dem Even stand, mit breiten, selbstgefälligen Buchstaben, nicht mehr die Ritzen im Holz und nicht mehr die schwarze Türklinke, deren Farbe mit den Schmutzflecken verschmolz, nicht mehr den Fußabtreter, der einmal orangefarben gewesen war, jetzt aber braun und auf dem zwei glückliche Katzen abgebildet waren, alle Einzelheiten dieser Tür würde sie nie mehr sehen, und ich dachte, daß ich wahrscheinlich dankbar sein sollte, daß ich das alles sehen durfte, und legte die Hand auf die Klinke, um meine Fingerabdrücke darauf zu hinterlassen, und plötzlich bewegte sich die Klinke nach unten, und die Tür ging mit einem Quietschen auf, das sich wie ein Seufzer anhörte.
Ich machte sofort einen Satz rückwärts, damit klar wäre, daß ich das nicht mit Absicht getan hatte, und drehte mich sogar zu der gegenüberliegenden Tür, um mich zu vergewissern, daß sie mich nicht mit ihren ruhigen, hellen Augen verfolgte, und wie ein müder, verwirrter Soldat stand ich zwischen den beiden Fronten, bis das Licht im Treppenhaus anging und zu hören war, wie oben eine Tür zugeschlagen wurde, dann rasche Schritte, die die Treppe herunterkamen, und ich geriet unter Druck, die offene Tür bewies, daß etwas mit mir seltsam war, ich machte einen schnellen Schritt, um sie zu schließen und endlich wegzulaufen, statt dessen trat ich ein.
Der Flur war dunkel, aber ganz hinten blitzte ein Licht, und ich hörte den Lärm eines Motors und das Quietschen von Rädern, es hörte sich an, als fahre jemand in der Wohnung Motorrad, und ich stand ganz ruhig da und lauschte, bis ich verstand, daß es ein Staubsauger war, der über die großen Teppiche gerollt wurde, die gestern noch vollkommen sauber ausgesehen hatten. Die Tüten sah ich neben der Küchentür liegen, ein Salatkopf war auf den Boden gerollt, ein Brot lehnte dagegen, so eilig hatte er es gehabt, Staub zu saugen. Für wen hatte er es so eilig, seine privaten durchsichtigen Krümel in das hungrige Staubsaugermaul zu saugen, als ob heute eine neue Frau bei ihm einziehen würde. Schließlich würde Joséphine nichts davon erfahren, jeden Tag um fünf würde er sie ein wenig in der Station herumfahren und dann in sein staubfreies Zuhause zurückkehren, voller böser Pläne, und Joséphine würde nichts davon wissen.
Ich hörte, wie er auf den Knopf drückte, wie der Staubsauger mit einem langen Seufzer ausging und Richtung Flur gerollt wurde. Mein Herz klopfte heftig, aber meine Beine waren vollkommen gelähmt, sosehr ich auch weglaufen wollte, sie bewegten sich nicht, wie damals, als wir auf dem Rasen vor dem Haus lagen und ich sah, wie die Vögel in der Luft schwebten, und mein Vater schrie, eine Schlange, lauf ins Haus,
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