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Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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und ihr dicker, schöner Zopf lag um ihren Hals wie ein Schal oder wie ein Strick, und ihr Gesicht war verzerrt, der Mund aufgerissen, als würde sie schreien, aber kein Schrei war zu hören, und einen Moment lang glaubte ich, sie wäre gar nicht meine Mutter, noch nie hatte ich sie so wild gesehen, und sie nahm mich auf den Arm, als wäre ich ein Baby, und rannte wie verrückt weiter, in die Orangenplantage hinter unserem Haus, und noch im Rennen öffnete sie ihre Bluse, so daß mir ihre Brüste, von denen die Milch tropfte, ins Gesicht sprangen, und sie weinte, du willst jetzt trinken, nicht wahr, du mußt jetzt gestillt werden, und dann setzte sie sich plötzlich unter einen Baum und stieß mir eine Brustwarze in den Mund, und ich wurde von ihrem Wahnsinn angesteckt, ich machte den Mund auf, obwohl ich schon fast zehn war, und begann ihre Milch zu trinken, diese dünne, süßliche Milch, die von einem Moment zum anderen nutzlos geworden war. Wir sahen meinen Vater auf der Suche nach uns herumlaufen, Rachel, schrie er, auch er weinte, wo seid ihr, er sah so einsam aus in der Dämmerung zwischen den Bäumen, wo seid ihr, er weinte wie ein Kind, das Verstecken spielt und seine Aufgabe viel zu ernst nimmt, und meine Mutter schwieg grausam, atmete ruhig, drückte meinen Mund mit Gewalt auf ihre Brustwarze, und ich hatte das Gefühl, dem Ersticken nahe zu sein, und begann mich zu winden, und schließlich biß ich sie, um freizukommen, und mit einem milchgefüllten Mund schaffte ich zu sagen, wir sind hier, Papa. Er kam angerannt, beugte sich zu uns, oder besser gesagt, sank nieder, und zu dritt saßen wir in der Dunkelheit unter dem Baum, und sie sprach immer weiter zu mir, als wäre er gar nicht da, sie sagte, warum hast du uns verraten, wie ein kleines Mädchen, warum hast du uns verraten, er hätte uns nie gefunden, und offenbar meinte sie wirklich, daß wir unser ganzes Leben hier unter dem Baum hätten sitzen können, während er wie ein Blinder, dem der Hund weggelaufen und der Stock zerbrochen war, verloren in der Gegend herumirrte.
    Ihre Freude konnten sie irgendwie miteinander teilen, aber nicht ihre Trauer, jeder von ihnen warf alles auf den anderen oder riß alles an sich und überließ dem anderen nichts, als handle es sich um eine ganz private Trauer, und ich versuchte, mich aus ihren glühenden Armen zu befreien, ganz naß von der verspritzten Milch, und dachte an mein Brüderchen, aber es gelang mir nicht, zu trauern, die Zeit hatte nicht gereicht, um ihn lieben zu lernen, ich war noch nicht einmal richtig eifersüchtig geworden, da wurde er schon krank, und sie brachten ihn in die Klinik, und ich durfte ihn nicht besuchen, denn er war auf der Isolierstation, und noch bevor er starb, hatte ich vergessen, wie er aussah, die Zeit hatte nicht einmal gereicht, ihn zu fotografieren, so kurz war sein Besuch in der Familie gewesen. Ich weiß noch, daß ich versuchte, meine Mutter zu trösten, ich sagte, es ist, als wäre er überhaupt nicht geboren worden. Ging es dir vor seiner Geburt denn nicht gut? Also warum fühlst du dich jetzt, wo er nicht mehr da ist, so schlecht? Wie kann man um etwas trauern, wenn man daran gewöhnt war, ohne es auszukommen? Doch sie sah mich so haßerfüllt an, als hätte ich ihn höchstpersönlich umgebracht, doch ich verstand sie nicht, ich wollte ihr ja bloß helfen. Außerdem, sagte ich zu ihr, müßtet ihr mich jetzt eigentlich verwöhnen, ihr müßtet es schätzen, daß ihr mich habt, statt dessen benehmt ihr euch, als wäre ich eure Stieftochter und er wäre euer richtiges Kind gewesen. An dem Tag, an dem ihr ein Kind verloren habt, sagte ich, bin ich zur Waise geworden.
    Da hörte ich näher kommende Schritte und dachte, das ist er, ich erschrak und überlegte, wo ich mich verstecken könnte, so als ob ich nicht auf ihn gewartet hätte, und ich stellte mich schnell vor die Tür der Wohnung gegenüber, wie ein Tier, das sich vor seinem Jäger versteckt, und tat, als wartete ich darauf, daß die Tür geöffnet würde, und die ganze Zeit dachte ich, wenn du ihn so dringend sehen willst, warum stehst du dann hier, und hinter meinem Rücken hörte ich weiter die Schritte, eine Frau kam ausgerechnet auf die Tür zu, vor der ich stand, ihre Schlüssel klimperten, und ich blieb bewegungslos stehen, spielte meine Rolle vor dem falschen Publikum, und plötzlich hörte ich ein Baby weinen, fordernd und erwartungsvoll, und ich begann zu zittern, denn so ein Weinen hatte ich seit vielen

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