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Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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vielleicht werde ich das sein, aber ich erschrak über das, was sie gesagt hatte. In meinen Augen war er so stark und unabhängig, und sie beschrieb ihn plötzlich als kindisch, abhängig und schwach. Wie konnte sie ihn stützen, protestierte ich, wo sie doch die ganze Zeit krank war?
    Tirza hat gesagt, auch als sie todkrank war, hat sie sich die ganze Zeit um ihn gesorgt, damit er sich nicht einsam fühlte, damit er nicht in eine Depression sank, sie hat sich darum gekümmert, daß er Besuch von Freunden bekam. Ihre Besucher schickte sie nach ein paar Minuten weg, zu Arie, als wäre er der Kranke, nicht sie, sagte meine Mutter und schnaubte siegesbewußt.
    Du hast also keine Ahnung, wann es passiert ist, fragte ich noch einmal, und sie sagte wütend, aber Ja’ara, was ist mit dir, statt zu fragen, wann die Beerdigung ist, fragst du, wann sie gestorben ist. Du begleitest mich, nicht wahr?
    Bei Beerdigungen war ich ihre Partnerin. Meinen Vater mochte sie nicht an einem offenen Grab stehen sehen, sie beschuldigte ihn immer, er würde sich vordrängen und ihr die Aussicht verstellen, aber mich hatte sie gerne dabei. Jedesmal schwor ich, nie wieder mitzugehen, und im letzten Moment gab ich dann doch nach, aus einer Art Hoffnung heraus, daß ich, wenn ich an ihrem Kummer teilnahm, auch an ihrem Trost teilhaben könnte.
    Nur wenn du herausbekommst, um wieviel Uhr sie gestorben ist, sagte ich kurz, und sie tobte, ich sei vollkommen verrückt geworden und sie würde mit Vergnügen allein gehen, ohne mich, aber nach ein paar Minuten rief sie wieder an. Deinetwegen habe ich Tante Tirza aufgeweckt, schimpfte sie, also, es ist gestern abend ungefähr um zehn passiert. Bist du jetzt zufrieden?
    Nein, ich war nicht zufrieden, ich war erschrocken wie ein Hypochonder, der entdeckt, daß er krank ist, wie ein Paranoider, der herausfindet, daß er wirklich verfolgt wird, denn den ganzen Abend über hatte ich das Gefühl gehabt, sie würden es nicht mehr schaffen, Abschied von ihr zu nehmen, ich hatte sogar vor unserem Haus, als er mich aussteigen ließ, gesagt, hoffentlich kommst du noch rechtzeitig, und er sagte, mach dir keine Sorgen, ich komme rechtzeitig hin, und er meinte den Flughafen und verstand nicht, was ich selbst kaum verstand, und ich dachte an diese seltsame Gruppe, ein parfümierter Bräutigam in einem Geschäftsanzug, eine vor Altersschwäche zitternde Mutter mit bläulichen Haaren, gestützt von der Schwester und ihrem Mann, und wie sie ihr Gepäck im Kofferraum verstauten und zum teuersten Restaurant der Stadt fuhren, einen italienischen oder französischen, denn zu Hause bei ihm gab es kein Essen, und als sie schließlich nach Hause kamen und über die staubfreien Teppiche gingen, fanden sie die Nachricht vor.
    Vor lauter Kummer und Schuldbewußtsein fühlte ich mich ganz schwindlig, wie hatte ich ihm mit meinem dummen Besuch die Pläne durchkreuzt, vielleicht wären sie noch rechtzeitig hingekommen, wenn sie, wie er es beabsichtigt hatte, bei ihm gegessen hätten, und ich wußte, daß dieser Fehler zum nächsten führen würde, wie beim Domino, denn wenn eine Kleinigkeit schiefgeht, zieht das immer etwas Größeres nach sich, und er wußte, daß es meine Schuld war, und würde mir das nie im Leben verzeihen.
    Aber er lächelte mich an, ein warmes, freundschaftliches Lächeln, über das offene Grab seiner Frau hinweg, mitten in der Gruppe stehend, die genau so aussah, wie ich sie mir vorgestellt hatte, wie der Wanderchor eines Provinztheaters sahen sie aus, und jeder spielte seine Rolle, so gut er konnte, die Mutter die Rolle der Mutter, auf eine europäische, beherrschte Art weinend, ihre Locken mischten sich mit den bläulichen Wolken, die Schwester stützte sie, mit schuldbewußtem Gesicht, allzu gesund, sie war vermutlich immer die weniger Schöne gewesen, die weniger Erfolgreiche, und jetzt war ausgerechnet sie am Leben geblieben, ihr Mann, der ihr den Arm um die Schulter gelegt hatte, stolz darauf, seine Treue in einer schweren Stunde zu demonstrieren, und daneben Arie, in der Rolle des jugendlichen Witwers, groß und feierlich in dem Anzug, den er gestern getragen hatte, und niemand würde darauf kommen, was für eine alberne gestreifte Unterhose er darunter trug.
    Ich stand nicht weit von ihm entfernt, meine Mutter achtete immer auf einen guten Platz in der Mitte, manchmal half sie sogar mit den Ellenbogen nach, um ihn zu bekommen, und wie eine brave Tochter stand ich zwischen ihr und meinem Vater, der

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