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Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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diesmal darauf bestanden hatte mitzukommen. An ihrem zornigen Gesicht sah ich, daß es nicht einfach gewesen war, bestimmt hatte es ein wütendes Hin und Her gegeben, das mich wirklich besonders interessiert hätte, zum Beispiel darüber, wer das natürliche Recht hätte, hierzusein, er oder sie, das heißt, wessen Freund er mehr war, seiner oder ihrer, und nur ich spürte im Herzen einen leisen Stolz, weil ich sie in diesem Wettbewerb beide übertrumpft hatte, ich hatte mir das Recht, hier im Kreis der trauernden Hinterbliebenen zu stehen, ehrlich erworben, vielleicht war ehrlich nicht das richtige Wort, aber was es besagen sollte, war klar. Vielleicht war ich in diesem großen Kreis diejenige, die sie zuletzt gesehen hatte, vielleicht hatte sie aus meiner Hand die letzte Tasse Tee ihres Lebens entgegengenommen, zwei Beutel Tee und zwei Löffelchen Zucker, könnte ich erzählen, wenn mich jemand fragen würde, vermutlich wußte sie, daß es ihr Ende war, und wollte noch möglichst viel herausholen.
    Stolz betrachtete ich die düsteren Gesichter, versuchte, unter ihnen die junge Frau mit den kurzen roten Haaren zu entdecken, aber sie war nicht da, die meisten Frauen unter den Trauergästen kamen mir zu alt vor, es war nicht eine unter ihnen, die meine Eifersucht oder mein Mißtrauen geweckt hätte, und plötzlich sah ich von weitem Tante Tirza, die langsam zwischen den Steinen und Gräbern näher kam, der Boden war steinig, das ganze Gelände sah aus wie eine Baustelle, nicht wie ein Friedhof, und ich wollte auf keinen Fall, daß sie von meinem Besuch im Krankenhaus erzählte, also lief ich ihr entgegen, zum Erstaunen meiner Eltern, angeblich um ihr behilflich zu sein, und sie stützte sich plötzlich mit ihrem ganzen Gewicht auf mich, so daß ich nicht mehr verstand, wie sie vorher hatte gehen können, ohne meine Hilfe.
    Jetzt ist er also frei, ein feines Männchen, sagte sie mit einem bösen Lächeln, und ich wußte nicht, ob sie ein oder dein gesagt hatte, und fragte deshalb, wer, und sie wiederholte den Satz, und wieder war nicht klar, ob sie ein oder dein gesagt hatte, und ich ärgerte mich, daß sie ihn Männchen nannte, mit dieser Verkleinerung, warum nicht Mann, wer war sie überhaupt, was wußte sie über ihn, sie war einfach eine verbitterte Frau, die alle Männer haßte, aber es bedrückte mich, daß sie vielleicht etwas über ihn wußte, was ich nicht wußte, vielleicht war er wirklich ein Männchen und kein Mann, wer weiß, was Joséphine ihr in den langen Nächten im Krankenhaus erzählt hatte, Nächten, in denen das Licht nie ausging und der Lärm nie aufhörte und auch nicht die Schmerzen.
    Sie war so schwer, daß ich fast zusammenbrach, ich ging gebückt, das Gesicht zur Erde, und dachte, wie war es möglich, daß die gleiche Krankheit, die Joséphine so klein gemacht hatte, Tirza nur größer und schwerer machte, geradezu riesig, autoritär und beängstigend, während die Trauergemeinde unser langsames Näherkommen beobachtete, so langsam und schwerfällig, daß mir der Verdacht kam, sie könnte es mit Absicht machen, könnte mich mit Gewalt niederdrücken, mich aus Bosheit zerquetschen, und ich verfluchte sie und meine Geheimnisse, die mich in so lächerliche Situationen brachten, im besten Falle lächerlich, und das alles nur, weil ich etwas zu verbergen hatte.
    Gerade als wir zu unseren Plätzen kamen, begann die Zeremonie, als hätte man nur auf uns gewartet, und Tante Tirza stand mit überraschender Leichtigkeit neben meiner Mutter, mit ihrem kalten Lächeln im Gesicht, und ich streckte mich erleichtert, noch immer ihr Gewicht fühlend, und vor meinen Augen glitt die kleine, zarte Leiche, nachlässig eingehüllt, in das tiefe Loch, wie ein zwölfjähriges Mädchen sah sie aus, ich hätte ihr keinen Tag mehr gegeben, ein zwölfjähriges Mädchen, das eine Rutsche hinunterrutscht und vergnügt lacht, aber statt Lachen hörte ich Weinen, unterdrücktes Weinen, das immer lauter wurde, und Arie, mit einer großen schwarzen Kipa auf dem Kopf, sagte den Kaddisch, fehlerfrei, als hätte er es ein Leben lang geübt, flüssig und mit Betonung.
    Ich blickte ihn verzaubert an, noch nie hatte er mich so erstaunt wie in diesen Minuten, die schwarze Kipa bedeckte seine grauen Haare und stellte den Eindruck der schwarzen Haare wieder her, die er einmal gehabt hatte, und sein Gesicht sah jugendlich aus vor Erregung, und plötzlich hoffte ich, daß er auch für mich den Kaddisch sagen würde, er und kein

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