Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
sich nur mit Mühe befreien und zu seinem Platz zurückkehren, hin- und hergerissen zwischen dem Stolz auf die männliche Brüderlichkeit und der Schande des alltäglichen weiblichen Giftes. Da und dort blitzte unter den anderen Köpfen seine schwarze Kipa hervor, aber sein kräftiges Gesicht, das ich so sehr liebte, so preisgegeben in seiner Verzweiflung, blieb mir verborgen, und ich hatte Angst, ich könnte ihn nie wiedersehen, als würde er dort begraben und nicht sie, und plötzlich empfand ich eine heftige Trauer, eine bittere, endgültige Trauer, und überwältigt von der Stärke des Gefühls ließ ich mich von der Trauergemeinde zu den Autos ziehen, gefangen zwischen meinen Eltern, die sich wieder gegen mich verbündet hatten, wie zwei Banditen, die die Angst vor der Polizei manchmal zu Verbündeten macht. Ich betrachtete die Reihen der hellen Gräber und dachte an meinen Bruder Avschalom, ein viel zu langer Name für so ein kleines Kind, und wie mein Vater sich an ihn geklammert hatte, mein Sohn Absalom! Mein Sohn, mein Sohn Absalom! Wollte Gott, ich wäre für dich gestorben!* Und nur das alte Klagelied rechtfertigte nachträglich den Namen, den sie ihm gegeben hatten, und welche Angst hatte ich gehabt, der Säugling könne tatsächlich plötzlich aus der Erde kommen und mein Vater an seiner Stelle hineingehen, und ich hatte gedacht, wie sehr er mich verstößt mit seinem Klagelied, und um mich zu rächen, hatte ich versucht, mir vorzustellen, wie eng es ihm in dem kleinen Grab sein müßte, wie er sich krümmen und zusammenrollen und jeder Muskel ihm weh tun würde.
Hinten im Auto quetschten wir uns neben Tante Tirza und schauten gleichgültig aus dem Fenster. Es ist mir wirklich nicht angenehm, euch zur Last zu fallen, sagte sie zu meinen Eltern, aber in ein, zwei Monaten werdet ihr noch mal hierherkommen müssen, und als sie höflich protestierten, sagte sie, keine Heuchelei, meine Herrschaften, ich habe genau das, was sie hatte, es gibt keinen Grund, daß es bei mir anders ausgehen sollte, und ich konnte mich nicht beherrschen, ich fragte, wie ist sie gestorben, was hat sie gesagt, bevor sie gestorben ist, und Tirza lachte bitter, du hast zu viele Filme gesehen, Süße, der wirkliche Tod ist im allgemeinen weniger geschwätzig, sie hat einfach nichts gesagt. Wie lange hat sie nichts gesagt, fragte ich, und Tirza zuckte mit den Schultern, ich weiß es nicht, ich bin mittags von der Behandlung zurückgekommen, da hat sie geschlafen, sie hat bis zum Abend geschlafen. Arie kam um fünf, da schlief sie noch immer. Er sagte, er würde später mit ihrer Familie kommen, aber als sie kamen, hat sie schon nicht mehr geatmet.
Sie hat also von mittags an nichts mehr gesagt, fragte ich weiter, und Tirza wurde gereizt, ich habe doch gesagt, daß sie schlief, vielleicht hat sie etwas im Schlaf gemurmelt, ich habe nicht darauf geachtet, was ist heute mit dir los, sag, was hast du überhaupt? Aber ich gab ihr keine Antwort und starrte hinaus auf die häßlichen Häuser und dachte, wie beängstigend das ist und wie unglaublich, daß ich tatsächlich die letzte bin, mit der sie gesprochen hat, die sie lebend gesehen hat. Ich versuchte, mich an jedes Wort zu erinnern, das sie gesagt hatte, jetzt war mir klar, daß ich nicht umsonst unterwegs aus dem Bus gestiegen war, daß ich nicht umsonst die Verabredung mit dem Dekan versäumt hatte, aber es fiel mir nichts ein, außer daß sie sich am Tag meiner Geburt übergeben hatte, und je länger und je mehr ich in meinem Gedächtnis wühlte, um so schwerer fiel es mir, und ich bekam Kopfschmerzen, mich blendete die Wintersonne, und ich sah fast nichts mehr, und wie im Traum hörte ich meinen Vater fragen, hast du schon mit Joni gesprochen? Und ich sagte, nein, er hat schon geschlafen, als ich gestern nach Hause kam, und als er heute morgen wegging, habe ich noch geschlafen, und Tirza lachte, das ist auch eine Methode, das Eheleben zu ertragen, warum ist mir das bloß nicht eingefallen, und ich fragte voller Angst, warum, Papa? Über was muß er mit mir sprechen? Und er schwieg, und plötzlich war die dumpfe Angst wieder da, die mich gestern gequält hatte, daß Joni ihnen mitgeteilt hatte, er habe die Absicht, mich zu verlassen, für immer, und ich hatte das Gefühl, gleich erbrechen zu müssen, sie hat sich am Tag meiner Geburt übergeben, und ich übergebe mich am Tag ihrer Beerdigung, dachte ich, aber in diesem Moment blieb das Auto stehen, und mein Vater sagte, wir sind da,
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